Als Ausstellungs-Ort für die documenta ist die Neue Hauptpost, derzeit kalauernd in „Neue Neue Galerie“ umbenannt, geeignet wie kein anderer. Sie wurde 1975 im brutalistischen Stil errichtet: ein monströser Klotz mit monotonen Fassaden aus grauem Sichtbeton und endlosen verspiegelten Fensterbändern. Dieses Mahnmal menschenverachtender Architektur hat als Hauptpost und Verteilzentrum für Kassel und sein Umland weitgehend ausgedient: emails ersetzen Briefe, Privatfirmen stellen online shopping-Pakete zu.
Info
documenta 14
10.06.2017 - 17.09.2017
täglich 10 bis 20 Uhr
an 35 Standorten in Kassel
Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €
Ausstellungsfläche in Lieferhalle
Da mutet es symbolträchtig an, dass der Ausstellungsbereich nur durch den Hintereingang im Hof zu erreichen ist: Hier spielt Kunst eine Nebenrolle. Im Inneren des Gebäudes trumpft sie aber mächtig auf: Das Erdgeschoss ist eine geräumige Halle, in der früher Lieferwagen einzelne Kojen ansteuerten, um Postsendungen aufzuladen. Die documenta-Macher ließen einen rund 20 Meter langen Raumteiler bis zur Decke einziehen – und schaffen so eine Ausstellungsfläche, die ihren Namen auch verdient. Anders als an den übrigen Standorten wirken die Exponate nicht wahllos aufgereiht, sondern sind aufeinander bezogen.
documenta 14: Impressionen der Ausstellung in der Neuen Neuen Galerie
Zwischen comic strip und muralismo
Blickfang ist das monumentale Wandgemälde „Murriland!“ von Gordon Hookey: Der Aborigine stellt die Geschichte der Eroberung Australiens durch Weiße dar. In leuchtend bunten Farben mit ausführlichen Erklärtexten, irgendwo zwischen comic strip und mexikanischem muralismo-Agitprop. Als leidenschaftliche Anklage der Nachfahren europäischer Einwanderer: „So-called ‚anglo-australians‘ … have our lands, great wealth, absolute power and control over our lives. We have fuckall.“ Ein Zeugnis brodelnder Wut.
Etwas subtiler, aber nicht weniger beeindruckend, fällt „Atlas Fractured“ von Theo Eshetu auf der Rückseite des Raumteilers aus. Der in London geborene Sohn eines Äthiopiers und einer Niederländerin hat sich das riesige Reklame-Banner gesichert, das jahrelang vor den Museen in Berlin-Dahlem für ihre ethnologischen Sammlungen warb. Es zeigt fünf Masken aus ebenso vielen Weltregionen von Afrika bis Ozeanien. Auf diesem Untergrund lässt Eshetu eine halbstündige Videoprojektion ablaufen: Masken und reale Gesichter scheinen miteinander zu verfließen, während die Tonspur existentielle Fragen stellt.
Wie auf der Grünen Woche
Für die schieren Ausmaße seiner Arbeit ist Eshetu kritisiert worden: Auf dieser documenta gilt manchem schon als verdächtig, was sich nicht dem Diktat spröder Hässlichkeit fügt. Dagegen findet die mehrteilige Installation von Máret Ánne Sara allgemeinen Beifall – obwohl sie Relikte einer Massakers in Deko-Ware verwandelt. Die Angehörige des nordischen Sámi-Volks verknüpft Hunderte von Rentier-Schädeln mit Einschusslöchern zu einem frei hängendem Knochen-Vorhang; daneben finden sich Fotos von Schädelbergen und eine Art Damen-Poncho aus Miniatur-Schädeln.
Viel Gebein für eine Protestaktion: Laut norwegischem Recht musste Saras Bruder, ein Rentier-Züchter, seine Herde deutlich verkleinern. Er klagte dagegen, weil seinem Betrieb der Konkurs drohe; das dokumentiert die Künstlerin. Ähnlich drastische Gesten kennt man von Bauern, die wahlweise Tonnen von Obst, Gemüse oder Mist auf die Straße kippen, um auf Preisverfall aufmerksam zu machen. Sollte diese Agro-Kunst auf fruchtbaren Boden fallen, dürfte es auf der nächsten documenta zugehen wie auf der Grünen Woche.
Retro-Schick mit Arbeitszwang
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel
und hier eine Besprechung von "documenta 14: Fridericianum" - Rundgang durch den Hauptstandort der Ausstellung 2017
und hier einen Beitrag über "documenta 14: documenta-Halle" - Rundgang durch die Präsentation 2017 in der documenta-Halle
und hier einen Bericht über "documenta 14: Neue Galerie" - Rundgang durch den größten Ausstellungsort der documenta 2017 in Kassel.
Nicht nur Menschen, auch Staaten und Systeme sterben. Und immer gibt es Leichenfledderer, die Überbleibsel ausschlachten. Die Serbin Irena Haiduk hat das Unternehmen „Yugoexport“ gegründet; sie lässt in einer kroatischen Fabrik bequeme Schuhe und andere Kleidung aus ex-jugoslawischer Produktion herstellen. Eine „Armee schöner Frauen“ mit Büchern auf den Köpfen präsentiert diesen Retro-Schick. Besucher dürfen ihn erwerben, müssen sich aber verpflichten, die Schuhe nur bei der Arbeit zu tragen – von einer x-beliebigen boutique unterscheidet sich die documenta zumindest noch durch sittenwidrige Kaufverträge.
Ewige Internet-Bruder/Schwesternschaft
Eine originellere Variante, abseitige Weltanschauungen wiederzubeleben, hat sich der Grieche Angelo Plessas ausgedacht. Sein Beitrag findet sich in der Gottschalk-Halle, die zum Areal der Universität Kassel zählt. Dort steht ein geräumiges Zelt, in dem es unentwegt blinkt, plärrt und fiepst. Ein Dutzend Monitore erhellt die Zeltbahnen; Videofilme werben für die „Eternal Internet Brother/Sisterhood“. Dieser esoterische Zirkel trifft sich laut Plessas jährlich an wechselnden Orten; im Mai 2017 auf dem Dörnberg, einem malerischen Naturschutzgebiet westlich von Kassel.
Glaubt man den Videos, betrieben die Esoteriker dort eine Woche lang so ziemlich alles, was an alternativer Sinnstiftung im Schwange ist: heidnische und frühzeitliche Philosophie, „open-source communalism“, geomantische Rituale und Anrufungen der Sonne, Transgender-Okkultismus, Gedenkrituale für Schwesterlichkeit und Freundschafts-Zeremonien, nicht zu vergessen: die Monumentalisierung des Anderen. Da fragt man sich, ob dieser Künstler als Parodist oder Chef-Vordenker zur documenta 14 eingeladen wurde.