Alain Gsponer

Jugend ohne Gott

Zach (Jannis Niewöhner) und Nadesh (Alicia von Rittberg) im Team als Hoffnungsträger der Leistungselite. Foto: © 2017 Constantin Film Verleih GmbH/die film gmbh/Marc Reimann
(Kinostart: 31.8.) Ödön von Horváth trifft "Tribute von Panem": Der antifaschistische Romanklassiker von 1937 wird von Regisseur Alain Gsponer neu verfilmt – als facettenreich inszenierte Gesellschaftsparabel im Zeitalter des Leistungsfetischismus.

80 Jahre nach dem Erscheinen des Romans „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth (1901-1938) kommt eine neue Verfilmung in die Kinos; es ist mittlerweile die fünfte. Der Schweizer Regisseur Alain Gsponer hat die Vorlage deutlich modernisiert, behält aber den Grundkonflikt bei: Wie soll man sich in einer offenbar gottverlassenen Welt verhalten, wenn man um das Gute weiß, doch beständig Zeuge des Bösen wird?

 

Info

 

Jugend ohne Gott

 

Regie: Alain Gsponer,

114 Min., Deutschland 2017;

mit: Jannis Niewöhner, Fahri Yardim, Alicia von Rittberg

 

Website zum Film

 

Horváths Roman spielt vor dem Hintergrund faschistischer Regime in Europa. Dagegen ist der Film in einer nahen Zukunft angesiedelt, die allerdings nicht minder totalitär anmutet. In kalten, farbentsättigten Bildern stellt Regisseur Gsponer eine leistungsorientierte Gesellschaft dar, in der Menschen nur noch in „Nutzbringer“ und „Verlierer“ eingeteilt werden. Die Leistungsträger leben in hoch technisierten und luxuriösen Verhältnisse. Wer nicht mithalten kann, haust als Leistungsempfänger in den „äußeren Sektoren“ unter menschenunwürdigen Bedingungen.

 

Sicht der Jugend berücksichtigt

 

Solche Zweiteilung der Gesellschaft und ihr look hat in dystopischen Filmen Tradition: angefangen mit „Metropolis“ (1927) von Fritz Lang bis zur Trilogie „Die Tribute von Panem“ (2012/5) oder „The Lobster“ (2015) von Giorgos Lanthimos. Dennoch gelingt Regisseur Gsponer ein absolut zeitgemäßer Film, der insbesondere beim jungen Publikum gut ankommen dürfte. Während Horváth ausschließlich aus der Sicht eines Lehrers erzählt, der an gefühllosen Schülern verzweifelt, rückt im Film auch die Sichtweise der Jugendlichen selbst in den Mittelpunkt.

Offizieller Filmtrailer


 

Tagebuch führen unerwünscht

 

Die Schüler Zach (Jannis Niewöhner), Nadesch (Alicia von Rittberg) und Titus (Jannik Schünann) gehören der Oberschicht an und besuchen eine Eliteklasse. Durch gute Leistungen und hervorragendes Benehmen haben sie sich für ein Trainingslager in den Bergen qualifiziert. Die Besten erhalten einen der wenigen, begehrten Studienplätze, wo sie zu künftigen Führungskräften ausgebildet werden. Bei allen Teilnehmern testet man körperliche und psychische Belastbarkeit; nur Stärke, Dominanz und Regelbefolgung zählen. Betreut von ihrem Lehrer (Fahri Yardim) konkurrieren die Schüler ehrgeizig um einen Platz an der Sonne.

 

Nur Zach hat Zweifel am System. Er hat gerade seinen Vater verloren und legt plötzlich rebellische Züge an den Tag, separiert sich von der Gruppe und führt heimlich Tagebuch. Das ist dem Überwachungsteam um Loreen (Anna Maria Mühe) nicht geheuer: Geheimnisse sind hier unerwünscht. Nadesch und Titus fürchten, dass Zachs Fehlverhalten auf sie zurückfallen könnte – sie beginnen, ihm nachzuspionieren.

 

Jobverlust bei wahrer Aussage

 

Die Lage eskaliert, als Zach ein so genanntes „illegales“ Mädchen kennenlernt. Ewa (Emilia Schüle) lebt als Außenseiterin im Wald, wo sie sich mit anderen Widerständlern vor dem Zwangssystem versteckt. Der Lehrer wird Zeuge eines heimlichen Treffens zwischen Zach und Ewa. Eigentlich müsste er den Regelverstoß melden, doch er steckt in einem Dilemma: Fallen seine Schüler bei der Bewertung durch, verliert auch er seine Stelle und steigt in die „äußeren Sektoren“ ab.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nocturama" - raffinierte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Betrand Bonello

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Himmel wird warten" über vom "Islamischen Staat" rekrutierte Jugendliche von Marie-Castille Mention-Schaar

 

und hier einen Bericht über den Film "The Lobster" - grotesk surreale Beziehungs-Dystopie von Giorgos Lanthimos mit Rachel Weisz + Colin Farrell

 

und hier einen Beitrag über den Film "Youth" – naturalistisches Kidnapping-Drama über orientierungslose Jugendliche in Israel von Tom Shoval.

 

Als Zachs Tagebuch gestohlen wird, gibt es erst Streit, dann Handgreiflichkeiten – schließlich wird eine Leiche im Wald gefunden. Nun wird Ewa wegen Mordes angeklagt; der Lehrer muss sich entscheiden, ob ihm seine Karriere oder die Wahrheit wichtiger ist. Während die Beteiligten sich alle gegenseitig beschatten und kontrollieren, wird dem Lehrer klar, dass er die Anforderungen an ihn mit seinen moralischen Überzeugungen nicht in Einklang bringen kann; er verzweifelt fast an seinen Gewissensbissen.

 

Problemlage wie 1937

 

Diese Zuspitzung führt Regisseur Gsponer gekonnt und stringent vor. Damit wird er Horváths Vorlage absolut gereicht; der österreichisch-ungarische Schriftsteller untersuchte in all seinen Werken, wie sich Mensch in ethischen Grenz- und Ausnahmesituationen verhalten. So wechselt die Inszenierung mehrfach die Erzählperspektive, so dass alle Protagonisten ausführlich zu Wort kommen.

 

Dabei bedient sich das Drehbuch raffinierter Tricks: Öfter springt der Film einige Szenen zurück, um das soeben Gesehene aus einem anderen Blickwinkel noch einmal zu schildern. Auch das Spiel der jugendlichen Darsteller ist durchweg überzeugend. Zwar kann die Ausstattung nicht mit dem Pomp von US-Großproduktionen wie „Tribute von Panem“ mithalten, aber das Szenario künftiger Zustände wird sehr glaubwürdig entworfen. Dass Regisseur Gsponer keine neue Geschichte erzählt, kann man ihm kaum vorwerfen: Leistungsfetischismus, Sozialdarwinismus und gesellschaftliche Spaltung sind heute ebenso aktuelle Probleme wie 1937.