Das muss ein Künstler erst einmal hinbekommen: von den Nazis geehrt und gleichzeitig geschmäht zu werden. Rudolf Belling (1886-1972) hat es geschafft. Im Juli 1937 wurde im Haus der Kunst in München die erste „Große Deutsche Kunstausstellung“ eröffnet: mit Hunderten von Gemälden und Plastiken so recht nach dem Geschmack der NS-Machthaber. Belling war mit seiner Bronzeskulptur von 1929 des Box-Weltmeisters Max Schmeling vertreten: eine Dreiviertelfigur in Kampfstellung mit realistischen Zügen.
Info
Rudolf Belling - Skulpturen und Architekturen
08.04.2017 - 29.10.2017
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr,
am Wochenende ab 11 Uhr
im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin
Katalog 35 €
29 Jahre Exil in der Türkei
Derweil hatte sich ihr Schöpfer an den Bosporus abgesetzt. Ab Anfang 1937 leitete er die Abteilung für Bildhauerei an der Kunstakademie in Istanbul – als einer von vielen deutschen Emigranten, die in der um Modernisierung bemühten Türkei unter Kemal Atatürk eine Anstellung als ausländische Fachkräfte fanden. Allerdings blieb Belling länger im Exil als die meisten seiner Kollegen: Erst 1966 kehrte er endgültig in die Bundesrepublik zurück.
Feature mit Statemens von Kurator Dieter Scholz + Tochter Elisabeth Weber-Belling + Impressionen der Ausstellung; © Freunde der Nationalgalerie
Zu vielseitig für Nachruhm
Das mag einer der Gründe sein, warum dieser Bildhauer, der in der Weimarer Republik allseits geschätzt wurde und großen Erfolg hatte, heutzutage kaum noch bekannt ist. Sein Name ist halb vergessen, doch seine Arbeiten sind es nicht. Bellings Hauptwerke, neben dem „Dreiklang“ und dem „Kopf in Messing“ etwa auch die konstruktivistische „Skulptur 23“ (1923), für die er ein Gesicht aus lauter schwebenden Elementen zusammensetzte, werden in vielen Überblicks-Ausstellung zur Klassischen Moderne gezeigt. Und seine spät entstandene Großplastik „Blütenmotiv als Friedenssymbol“ steht heute noch im Münchener Olympiapark.
Allerdings wird allein diese vier Arbeiten, die ganz verschieden aussehen, kaum jemand demselben Künstler zuordnen. Ein weiterer Faktor, mit dem Belling seinen Nachruhm aufs Spiel setzte: Er war zu vielseitig. Genauer: Er eignete sich in wenigen Jahren diverse Formensprachen der Avantgarden an und setzte sie virtuos nach Belieben ein, ohne sich auf eine festzulegen. „Ob gegenständlich oder gegenstandslos, ich erlaube mir alles, was mir nötig erscheint, um organisch gesetzmäßig zu bilden“, formulierte Belling 1922 sein Credo. Lässt man das wolkige „organisch gesetzmäßig“ als jargon der Epoche weg, bleibt übrig: Ich mache, was ich will.
Reprise der Belling-Schau von 1924
Für alle möglichen Zwecke: Der Bildhauer scherte sich nicht um die Unterscheidung zwischen freier und angewandter Kunst. Er schuf frei stehende Plastiken ebenso wie Terrakotta-Reliefs für Hausfassaden oder Bühnenbilder und Kostüme für Theater und Film – mit einem Ausstatter-Atelier hatte er seine Laufbahn 1908 begonnen. 1920 gestaltete er für das „Scala“-Tanzlokal expressionistisch zackige Innenräume, und für die AVUS-Rennstrecke baute er eine sieben Meter hohe Reklamefigur. 1921 ließ er sich gar Schaufenster-Puppen in stilisierten, aber gefällig fließenden Formen patentieren – sie fanden rasch weite Verbreitung.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension zur Ausstellung "Geschichten im Konflikt" über „Das Haus der Kunst 1937-1955“ mit Werken von Rudolf Belling in der "Entartete Kunst"-Femeschau im Haus der Kunst, München
und hier eine Besprechung der Ausstellung "William Wauer und der Berliner Kubismus" mit Werken von Rudolf Belling in Berlin + Ulm
und hier einen Beitrag über den Film "Haymatloz - Exil in der Türkei" über deutsche Akademiker-Emigranten nach 1933 wie Rudolf Belling von Eren Önsöz mit seiner Tochter Elisabeth Weber Belling
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive des originellen abstrakten Künstlers der 1920/30er Jahre in Köln + Basel.
Vielansichtige Rundplastiken
Letzteres deutet auf die zahlreichen „Kunst am Bau“-Arbeiten hin, die der gebürtige Berliner in der Weimarer Republik ausgeführt hatte. Meist als öffentliche Aufträge: Sozialdemokratie und Gewerkschaften errichteten zahlreiche Zweckbauten, und Belling verzierte sie. Er fertigte auch Bronze-Köpfe und -Reliefs von Spitzenpolitikern wie Friedrich Ebert und Gustav Stresemann oder Arbeiterführern an – sie wurden in der NS-Zeit eingeschmolzen. Vieles andere wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört; rund die Hälfte seines Gesamtwerks gilt als verloren.
Was übrig blieb, beeindruckt noch immer durch Originalität und formale Raffinesse. Belling entwarf seine Skulpturen nicht für einen idealen Betrachter-Standpunkt; man muss sie umschreiten, um sie zu begreifen. Dann werden zahllose Bezüge offensichtlich, etwa beim „Dreiklang“: Drei gebogene Vertikalen sind so in einzelne Elemente gegliedert, dass sich die Kanten optisch zu Verbindungslinien ergänzen. Quer über den Luftraum hinweg: Der Bildhauer betrachtete ihn als integralen Bestandteil – Materie und Leere gemeinsam ergeben die gesamte Plastik.
Punkt, Punkt, Komma + Strich
Am schönsten und witzigsten zeigt das ein Bronze-Antlitz, das Belling 1927 von seinem Galeristen Alfred Flechtheim anfertigte. Es besteht nur aus Augenhöhlen, lächelnden Lippen – und der Kontur eines riesigen Zinkens, die Augen und Mund miteinander verbindet. Wer jemals ein anderes Bild von Flechtheim sah, weiß: Treffender konnte man ihn nicht porträtieren.