Berlin

Rudolf Belling – Skulpturen und Architekturen

Rudolf Belling: Kopf in Messing (Detail), 1925, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, © Nationalgalerie, SMB / Johann Clausen / VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Fotoquelle: SMB
Ein Extrem-Eklektiker: Der Bildhauer Rudolf Belling beherrschte alle Avantgarde-Stile virtuos. Vor den Nazis, die ihn zugleich ehrten und verfemten, floh er in die Türkei – nun würdigt der Hamburger Bahnhof sein Gesamtwerk mit einer klug arrangierten Retrospektive.

Das muss ein Künstler erst einmal hinbekommen: von den Nazis geehrt und gleichzeitig geschmäht zu werden. Rudolf Belling (1886-1972) hat es geschafft. Im Juli 1937 wurde im Haus der Kunst in München die erste „Große Deutsche Kunstausstellung“ eröffnet: mit Hunderten von Gemälden und Plastiken so recht nach dem Geschmack der NS-Machthaber. Belling war mit seiner Bronzeskulptur von 1929 des Box-Weltmeisters Max Schmeling vertreten: eine Dreiviertelfigur in Kampfstellung mit realistischen Zügen.

 

Info

 

Rudolf Belling - Skulpturen und Architekturen

 

08.04.2017 - 29.10.2017

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr,

am Wochenende ab 11 Uhr

im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin

 

Katalog 35 €

 

Website zur Ausstellung

 

Einen Tag später begann in den benachbarten Hofgarten-Arkaden die Ausstellung „Entartete Kunst“ – ebenfalls mit zwei Hauptwerken von Belling: seiner abstrakten Plastik „Dreiklang“ von 1919 und dem in Art Déco-Schwung gehaltenen „Kopf in Messing“ von 1925. Dass ein und derselbe Künstler zugleich vorbildlich und „entartet“ sein sollte, fiel etlichen Besuchern auf. Anfangs versuchten die Veranstalter, den Widerspruch zum Zeichen ihrer Objektivität umzudeuten: Es gehe nur um die Qualität von Kunstwerken, nicht um Personen. Später wurden die beiden Plastiken aus der Femeschau entfernt; das Bildnis des populären Schmeling durfte bleiben.

 

29 Jahre Exil in der Türkei

 

Derweil hatte sich ihr Schöpfer an den Bosporus abgesetzt. Ab Anfang 1937 leitete er die Abteilung für Bildhauerei an der Kunstakademie in Istanbul – als einer von vielen deutschen Emigranten, die in der um Modernisierung bemühten Türkei unter Kemal Atatürk eine Anstellung als ausländische Fachkräfte fanden. Allerdings blieb Belling länger im Exil als die meisten seiner Kollegen: Erst 1966 kehrte er endgültig in die Bundesrepublik zurück.

Feature mit Statemens von Kurator Dieter Scholz + Tochter Elisabeth Weber-Belling + Impressionen der Ausstellung; © Freunde der Nationalgalerie


 

Zu vielseitig für Nachruhm

 

Das mag einer der Gründe sein, warum dieser Bildhauer, der in der Weimarer Republik allseits geschätzt wurde und großen Erfolg hatte, heutzutage kaum noch bekannt ist. Sein Name ist halb vergessen, doch seine Arbeiten sind es nicht. Bellings Hauptwerke, neben dem „Dreiklang“ und dem „Kopf in Messing“ etwa auch die konstruktivistische „Skulptur 23“ (1923), für die er ein Gesicht aus lauter schwebenden Elementen zusammensetzte, werden in vielen Überblicks-Ausstellung zur Klassischen Moderne gezeigt. Und seine spät entstandene Großplastik „Blütenmotiv als Friedenssymbol“ steht heute noch im Münchener Olympiapark.

 

Allerdings wird allein diese vier Arbeiten, die ganz verschieden aussehen, kaum jemand demselben Künstler zuordnen. Ein weiterer Faktor, mit dem Belling seinen Nachruhm aufs Spiel setzte: Er war zu vielseitig. Genauer: Er eignete sich in wenigen Jahren diverse Formensprachen der Avantgarden an und setzte sie virtuos nach Belieben ein, ohne sich auf eine festzulegen. „Ob gegenständlich oder gegenstandslos, ich erlaube mir alles, was mir nötig erscheint, um organisch gesetzmäßig zu bilden“, formulierte Belling 1922 sein Credo. Lässt man das wolkige „organisch gesetzmäßig“ als jargon der Epoche weg, bleibt übrig: Ich mache, was ich will.

 

Reprise der Belling-Schau von 1924

 

Für alle möglichen Zwecke: Der Bildhauer scherte sich nicht um die Unterscheidung zwischen freier und angewandter Kunst. Er schuf frei stehende Plastiken ebenso wie Terrakotta-Reliefs für Hausfassaden oder Bühnenbilder und Kostüme für Theater und Film – mit einem Ausstatter-Atelier hatte er seine Laufbahn 1908 begonnen. 1920 gestaltete er für das „Scala“-Tanzlokal expressionistisch zackige Innenräume, und für die AVUS-Rennstrecke baute er eine sieben Meter hohe Reklamefigur. 1921 ließ er sich gar Schaufenster-Puppen in stilisierten, aber gefällig fließenden Formen patentieren – sie fanden rasch weite Verbreitung.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension zur Ausstellung "Geschichten im Konflikt" über „Das Haus der Kunst 1937-1955“ mit Werken von Rudolf Belling in der "Entartete Kunst"-Femeschau im Haus der Kunst, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "William Wauer und der Berliner Kubismus" mit Werken von Rudolf Belling in Berlin + Ulm

 

und hier einen Beitrag über den Film "Haymatloz - Exil in der Türkei" über deutsche Akademiker-Emigranten nach 1933 wie Rudolf Belling von Eren Önsöz mit seiner Tochter Elisabeth Weber Belling

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus" - eindrucksvolle Retrospektive des originellen abstrakten Künstlers der 1920/30er Jahre in Köln + Basel.

 

Das enorme Spektrum seines Wirkens lässt sich nun endlich wieder entdecken. Die Retrospektive im Hamburger Bahnhof bietet mit rund 80 Exponaten einen konzentrierten, klug arrangierten und kommentierten Überblick über alle Schaffensphasen – als erste große Werkschau in Deutschland seit mehr als 50 Jahren. Und als überfälliges Wiederanknüpfen an die eigene Tradition: 1924 hatte der damals 38-Jährige seine erste institutionelle Einzelausstellung in der Nationalgalerie erlebt. Unter demselben Titel wie jetzt: „Skulpturen und Architekturen“.

 

Vielansichtige Rundplastiken

 

Letzteres deutet auf die zahlreichen „Kunst am Bau“-Arbeiten hin, die der gebürtige Berliner in der Weimarer Republik ausgeführt hatte. Meist als öffentliche Aufträge: Sozialdemokratie und Gewerkschaften errichteten zahlreiche Zweckbauten, und Belling verzierte sie. Er fertigte auch Bronze-Köpfe und -Reliefs von Spitzenpolitikern wie Friedrich Ebert und Gustav Stresemann oder Arbeiterführern an – sie wurden in der NS-Zeit eingeschmolzen. Vieles andere wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört; rund die Hälfte seines Gesamtwerks gilt als verloren.

 

Was übrig blieb, beeindruckt noch immer durch Originalität und formale Raffinesse. Belling entwarf seine Skulpturen nicht für einen idealen Betrachter-Standpunkt; man muss sie umschreiten, um sie zu begreifen. Dann werden zahllose Bezüge offensichtlich, etwa beim „Dreiklang“: Drei gebogene Vertikalen sind so in einzelne Elemente gegliedert, dass sich die Kanten optisch zu Verbindungslinien ergänzen. Quer über den Luftraum hinweg: Der Bildhauer betrachtete ihn als integralen Bestandteil – Materie und Leere gemeinsam ergeben die gesamte Plastik.

 

Punkt, Punkt, Komma + Strich

 

Am schönsten und witzigsten zeigt das ein Bronze-Antlitz, das Belling 1927 von seinem Galeristen Alfred Flechtheim anfertigte. Es besteht nur aus Augenhöhlen, lächelnden Lippen – und der Kontur eines riesigen Zinkens, die Augen und Mund miteinander verbindet. Wer jemals ein anderes Bild von Flechtheim sah, weiß: Treffender konnte man ihn nicht porträtieren.