Gurinder Chadha

Der Stern von Indien – Viceroy’s House

Gipfeltreffen: Lord Mountbatten (Hugh Bonneville, li.) und seine Frau Edwina (Gillian Anderson, re.) empfangen Gandhi (Neeraj Kabi, mi.). Foto: © TOBIS Film GmbH
(Kinostart: 10.8.) Geburt zweier Staaten im Flüchtlings-Chaos: Unter welch dramatischen Umständen Indien und Pakistan unabhängig wurden, erzählt Regisseurin Gurinder Chadha mit leichter Hand als mitreißendes Historien-Epos – ohne Scheu vor großen Gesten.

Die unselige Unsitte, Nationen aus politischen Gründen zu teilen, trennt heutzutage nur noch Nord- von Südkorea – denkt man im Westen. In Südasien sieht man das anders: Nach Ansicht der meisten Inder wurde ihr Land unrechtmäßig in Indien und Pakistan aufgeteilt. Genau genommen ist der indische Subkontinent sogar dreigeteilt: Bangladesch spaltete sich 1971 von Pakistan ab. Ohne diese Grenzen wären Indien mit 1,3 Milliarden, Pakistan mit 200 Millionen und Bangladesch mit 160 Millionen Einwohnern zusammen die bei weitem bevölkerungsreichste Nation der Welt.

 

Info

 

Der Stern von Indien
- Viceroy's House

 

Regie: Gurinder Chadha,

107 Min., Großbritannien/ Indien 2017;

mit: Hugh Bonneville, Gillian Anderson, Neeraj Kabi

 

Website zum Film

 

Dass die Befreiung von britischer Kolonialherrschaft 1947 zugleich zur Spaltung führte, die in Krieg und Vertreibung von Millionen Menschen mündete, war eine traumatische Erfahrung. Sie wirkt in einer so traditionsbewussten Gesellschaft wie der indischen bis heute fort; zumal sie – anders als die Erinnerung der Deutschen an Krieg, Vertreibung und Teilung – nicht durch Aussöhnung und Wiedervereinigung neutralisiert worden ist. Indien und Pakistan feinden sich immer noch an; sie wurden sogar Atommächte, nur um sich gegenseitig in Schach zu halten.

 

Vizekönigs-Palast fürs Kronjuwel

 

Dieses Traumas nimmt sich die britisch-indische Regisseurin Gurinder Chadha, die bislang vor allem Multikulti-Komödien wie „Kick it like Beckham“ (2002) gedreht hat, beherzt an. Anders als der diffuse deutsche Titel, offenbar von einem Ritterorden der Kolonialzeit abgeleitet, benennt das englische Original „Viceroy’s House“ präzise, was Chadha ins Zentrum rückt. Der von 1912 bis 1929 errichtete Vizekönigs-Palast in Neu-Dehli war die Residenz des Generalgouverneurs; von hier aus regierte er das „Kronjuwel des britischen Empires“. Heute dient der Monumentalbau als Amtssitz des indischen Staatspräsidenten.

Offizieller Filmtrailer


 

Versailles in den Subtropen

 

Ein historistischer Koloss im indo-europäischen Stilmix mit 340 Zimmern auf vier Etagen voller Prunk – hier ist alles auf imperiale Prachtentfaltung ausgerichtet. Allein der Hofstaat umfasst 500 Bedienstete, die sich rund um die Uhr um das Wohl der Bewohner und ihrer Gäste kümmern: Versailles in den Subtropen. In dieses Epizentrum der Macht in Britisch-Indien ziehen Anfang 1947 Lord Mountbatten (Hugh Bonneville) und seine Frau Edwina (Gillian Anderson) ein.

 

Beide wissen: Sie sind die letzten britischen Statthalter. Ihr Auftrag lautet, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Wofür sie das richtige Naturell mitbringen: Der liebenswürdige Lord pflegt leutseligen Umgang mit politischen Führern wie dem charismatischen Mahatma Gandhi (Neeraj Kabi) und  Jawaharlal Nehru von der hinduistischen Kongresspartei sowie Muhammad Ali Jinnah, Führer der Muslimliga. Derweil modernisiert seine Frau die Sitten bei Hofe: Anstelle von schwerer englischer Kost kommen fortan indische Gerichte auf den Tisch.

 

Überhasteter Teilungsplan

 

Doch das politische Menü erweist sich zusehends als unverdaulich. Regionale Rivalitäten zwischen Hindus und Moslems weiten sich zu Unruhen im ganzen Land aus; weder die britischen Besatzer noch ihre indischen Hilfstruppen bekommen sie unter Kontrolle. Dem Vizekönig gelingt es nicht, seine indischen Verhandlungspartner auf eine gemeinsame Haltung zu verpflichten. Gandhi besteht auf Indiens Einheit unter Hindu-Führung; Ali Jinnah verlangt einen islamischen Teilstaat, damit die Moslems nicht auf ewig ins Hintertreffen geraten.

 

In der Zwickmühle widersprüchlicher Forderungen präsentiert Lord Mountbatten im Juni den nach ihm benannten Teilungsplan. Den genauen Grenzverlauf soll eilends ein Geographie-Experte festlegen; in strittigen Gebieten sollen lokale Fürsten entscheiden – ein Auslöser für den bis heute schwelenden Konflikt um Kaschmir. Am 15. August werden die Indische Union und Pakistan unabhängige Staaten; sie sind kaum darauf vorbereitet. So steht es in den Geschichtsbüchern.

 

15 bis 20 Millionen auf der Flucht

 

Regisseurin Gurinder Chadha präsentiert eine alternative Version. Demnach habe sich London bereits 1946 für die Teilung entschieden: um mit Pakistan eine prowestliche Regionalmacht zu schaffen, die einerseits freien Zugang zu den Ölfeldern am Persischen Golf garantieren und zugleich ein Vordringen der Sowjetunion gen Süden verhindern könne. Ob das stimmt, mögen Historiker nach Quellenlage entscheiden – jedenfalls ging das Kalkül auf: Trotz innenpolitischer Wirren blieb Islamabad bis zum Ende der Blockkonfrontation ein treuer Verbündeter Washingtons.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mitternachtskinder" – grandiose Verfilmung des Roman-Epos von Salman Rushdie über die Folgen von Indiens Teilung 1947 durch Deepa Mehta

 

und hier einen Bericht über den Film “Ein Junge namens Titli” – brillantes Kleingangster-Drama in Neu-Dehli von Kanu Behl

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Koloniale Auge – Frühe Porträtfotografie in Indien" – gute Überblicks-Schau im Museum für Fotografie, Berlin.

 

Unbestritten ist jedoch, was dann geschah: Vor der endemischen Gewalt flohen etwa 15 bis 20 Millionen Hindus und Moslems ins jeweils andere Land. Bei einem der größten Flüchtlingsströme der Geschichte soll rund eine Million Menschen gestorben sein. Wie der Spaltpilz quasi über Nacht eine riesige Nation zerfrisst, zeigt Regisseurin Chadha sehr anschaulich: angefangen von Palastangestellten, die um Geschirr und Wäsche streiten, bis zu Kämpfen auf Leben und Tod in den provisorischen Flüchtlingslagern.

 

Aus goldenem Palast-Käfig ausbrechen

 

Die emotionale Fallhöhe macht ein einfaches Paar deutlich: Der Hindu Jeet, der als Diener im Palast antritt, trifft dort seine Jugendliebe wieder, die Muslimin Aalia. Doch an Heirat ist in der aufgeheizten Atmosphäre nicht zu denken, zumal ihr Vater sie einem Glaubensbruder versprochen hat – und die ganze Familie nach Pakistan auswandern wird. Diese Konstellation erinnert zwar ein wenig an Bollywood, gibt aber dem Film Gelegenheit, aus dem goldenen Palast-Käfig auszubrechen und ausgiebig durch Siedlungen normaler Inder zu streifen.

 

Was vielleicht die größte Qualität von Chadhas Regieführung ist: wie ungezwungen sie die Ebenen und Milieus wechselt. Panorama-Bilder von pomp and circumstances fängt sie ebenso prägnant ein wie diskrete Büro-Beratungen, malerisches Alltagsleben so plastisch wie dramatische Szenen im refugee camp. So gelingt ihr mit leichter Hand ein mitreißendes Historien-Epos, das an berühmte Vorläufer wie „Gandhi“ (1982) von Richard Attenborough anknüpft und zugleich stilsicher ganz eigene Akzente setzt. Fesselnder kann Geschichtsunterricht auf der Leinwand kaum sein.