
Die wilden Jahre sind vorbei: Ab 2008 hat die „abc – art berlin contemporary“ neun Jahre lang versucht, alles anders zu machen als gewöhnliche Kunstmessen. Sie wollte eine „kuratierte Messe“ sein, in der Galerien nicht einfach vorführen, was sie auf Lager haben, sondern das gesamte Angebot einer Leitidee folgt. Eine Messe, bei der nicht schnöder Mammon, sondern Neugier auf Unbekanntes und der Primat des Kreativen ausschlaggebend sind. Kurzum: Die „abc“-Macher wollten Kunst und Kommerz auf einzigartige Weise miteinander versöhnen.
Info
art berlin
14.09.2017 – 17.09.2017
Donnerstag 16 bis 20 Uhr, Freitag + Samstag 11 bis 19 Uhr, Sonntag 11 bis 16 Uhr
in der Station-Berlin,
Luckenwalder Strasse 4—6
Spätestens 2016 gescheitert
All das ist vorbei. Die konkrete Utopie scheiterte spätestens 2016, als die Teilnehmerzahl um fast die Hälfte auf 62 schrumpfte. Viele Galeristen klagten, sie kämen nicht auf ihre Kosten: Die Einladungspraxis sei undurchsichtig. Ein schlecht gegliederter parcours erschwere den Besuchern die Orientierung. Der Zwang zur solo show werde Galerien mit breit gefächertem portefeuille nicht gerecht – dazu komme die notorische Kaufunlust des Berliner Publikums.
Impressionen der art berlin-Messe
Art Berlin folgt Kölner Vorbild
Anstatt in Schönheit zu sterben, floh die „abc“ unter die Fittiche der Konkurrenz: Die „Koelnmesse“-Gesellschaft, die schon die wichtigste deutsche Kunstmesse „ART COLOGNE“ ausrichtet, tritt nun als Veranstalterin auf. Ihre Neuschöpfung „art berlin“ folgt dem Kölner Vorbild – als eine nach kaufmännischen Prinzipien geführte Handelsmesse. Mit Einzelkojen für jede Galerie, die so viele Künstler und Werke zeigen darf, wie sie mag. Mit einem stark abgespeckten Beiprogramm, damit sich alle Beteiligten aufs Geschäft konzentrieren können. Nur wurden die Teilnehmer nochmals direkt eingeladen – aus Zeitgründen, so Messeleiterin Maike Cruse.
Bei Galeristen und Besuchern kommt die neue Normalität gut an. In digital beschleunigten und politisch unsicheren Zeiten schwinden Experimentierlust und Risikofreude: Man ist froh über Entlastung durch Vertrautes, das nicht irritiert. Um den Preis, auf Überraschungen zu verzichten: Sperrige und raumgreifende Exponate sind praktisch verschwunden.
Traditionalismus + Provinzialisierung
Bislang prägte die „abc“ eine Art Überbietungs-Wettbewerb: Da wurden komplette Zuschauertribünen oder Schiffscontainer in die Hallen gewuchtet, aus Laternenmasten Kronleuchter zusammengeschweißt oder wandfüllende Plakatbahnen aufgespannt. Tempi passati: Etliche der diesjährigen Schaustücke könnte man sofort einpacken lassen und mitnehmen. Vor allem Gemälde und Grafiken von Klassikern der Moderne: Erstmals sind auch Arbeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dabei.
Die neue Kleinteiligkeit bedingt auch eine Rückkehr zu traditionellen Sparten: viel Malerei, Fotografie und handliche Skulpturen. Film und Video finden sich kaum, neue Medien fast gar nicht. Verständlich: Die meisten Werktätigen starren schon am Arbeitsplatz stundenlang auf Monitore – wer will das auch noch beim Kunstgenuss tun? Bedenklicher erscheint die Provinzialisierung der „art berlin“: Die 112 Teilnehmer kommen vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum; bis auf wenige Exoten fehlen Galerien aus Übersee.
Marktüberblick nach Warengruppen
Macht nichts: Der Exportweltmeister kann auch auf dem Kunstsektor für einen selbsttragenden Aufschwung sorgen. Jede Messe ist eine Art temporäres Kaufhaus oder Supermarkt – da in ihnen das Sortiment nach Warengruppen angeordnet wird, geschieht das auch beim folgenden Marktüberblick. Alle Preise verstehen sich ohne Umsatzsteuer, sofern nicht anders angegeben.
Haushaltswaren
Mehr Gebrauchswert geht kaum: Laure Prouvost füllt „Großmutters Teekannen-Vitrine“ mit selbst gefertigter Keramik, irgendwo zwischen Töpferkurs und Bauhaus-Gesellenstück. Allerdings zum stolzen Preis von 26.000 Euro bei carlier | gebauer – so kostspielig wie feinstes Meißner Porzellan. Noch teurer sind sieben abstrakte „Gartenzwerge“ aus bunt leuchtendem Murano-Glas von Thomas Schütte: für 65.000 Euro
Sportartikel
Die Polin Alicja Kwade ist bekannt für raffiniert ausgetüftelte Serien-Skulpturen. Diesmal hat sie den Bewegungsablauf eines Hula-Hoop-Reifens in Einzelphasen zerlegt und mit Stahlringen in neun Skulpturen nachgestellt. Diese ausladende Installation macht jedem Betrachter Beine – für flotte 180.000 Euro bei der Berliner Galerie Johann König.
Miederwaren
Laurel Nakadate spielte 2009 bei ihrer Fotoserie „Lucky Tiger“ mit männlichen Reflexen: Sie ließ sich outdoor in lingerie und aufreizenden pin up-Posen ablichten und gab die Abzüge Fernfahrern in die Hand, deren Finger voller Tinte waren. Die so beschmierten Dokumente männlicher Schau- und Grabschlust werden von Tanja Wagner zum Stückpreis von 3.700 Euro abgegeben.
Heimwerkerbedarf
John Bock ist der manische Bastler unter den deutschen Gegenwartskünstlern: Er verwandelt jeden Raum in eine Müllhalde aus objets trouvés, die er zu Filmen usw. weiterverwurstet. Für die Ausstellung „Wolfsburg Unlimited“ steuerte er 2016 „Labskaus oder der alte Scharoun in seinem Elend“ bei – der berühmte Architekt hat das dortige Theater entworfen. Die Galerie Sprüth Magers hat den ganzen Krempel recycled und bietet ihn für 85.000 Euro feil; viel Holz fürs Geld.
Kolonialwaren
Souvenirs der besonderen Art fertigt Martin Dammann an. Zu Kolonialzeiten malte man Eingeborenen Buchstaben auf den Bauch; dann stellte man sie zu Wörtern auf, fotografierte sie und machte Postkarten daraus. Der Künstler malt sie im aquarellartigen Falschfarben-look ab – so sind etwa „Greetings“, verteilt auf neun lebensgroße Gestalten, bei Barbara Thumm für 20.000 Euro zu haben.
Unterhaltungselektronik
Kein anderer Messe-Künstler ist derart auf der Höhe der Zeit wie Andreas Greiner. Für „Dragonfly“ nimmt eine Drohne live-Bilder auf, die vom PC-Programm „Google Deep Dream“ nach Körpermerkmalen gescannt und durch eine Bilder-Datenbank ergänzt werden: Bei der Messe-Variante wird alles in Tierköpfe von Hunden oder Affen verwandelt. Die farbenfroh gruslige Demonstration künftiger Gesichtserkennungs-Kontrolle kostet bei Dittrich & Schlechtriem 25 bis 30.000 Euro – je nach elektronischer hardware-Ausstattung.
Traumatherapie
Hintergrund
Link zur Website der
"Berlin Art Week 2017"
Lesen Sie hier eine Rezension der "Berlin Art Week 2016" - mit den Messen abc art berlin contemporary + Positions Berlin Art Fair in Berlin
und hier eine Besprechung der "Berlin Art Week 2015" - mit den Messen abc art berlin contemporary + Positions Berlin Art Fair in Berlin
und hier eine Besprechung der „Berlin Art Week 2014“ – abc art berlin contemporary + Positions Berlin Art Fair in Berlin
Kapitalismuskritik
Die schöne Kunst der Dialektik kommt hier zur höchsten Blüte: Der Kunde erwirbt eine Belehrung, die ihn über die Nachteile solcher Transaktionen aufklärt. Opulent und originell ist Gunter Reskis „Raumjournal für Schweinezyklen“, einem VWL-Fachbegriff für sich selbst erzeugende und verstärkende Preisschwankungen. Seine überbordende Rauminstallation spekuliert über die Total-Virtualisierung der Lebenswelt: zum Schnäppchenpreis von 35.000 Euro (Galerie Karin Guenther). In der anästhetisch-kargen Tradition der radikalen Linken treten dagegen Marx-Zitate auf, die Thomas Locher auf Leinwände kopiert und mit Farben beschmiert hat: für 15.000 bis 24.000 Euro (Galerie Reinhard Hauff).
Ambient-Wandschmuck
Wer schon immer einen echten Damien Hirst besitzen wollte, erhält ihn bei der Londoner Galerie Paul Stolper zu erschwinglichen Preisen: für 4.500 bis 7.100 Euro inklusive Steuern. Aus einer 15er-Edition, doch das sieht man den prächtig gedruckten Schmetterlingen und Pillen nicht an. Rockfans wird freuen, dass der legendäre Produzent Brian Eno jetzt auch Kunst produziert: Wackelbilder in 100er-Auflage für 1.200 Euro und Lichtboxen für knapp 20.000 bis gut 45.000 Euro verbreiten unscharf warme Farben – quasi ambient music zum Aufhängen.
Luxusartikel
Die realistische Malerin Alice Neel (1900-1984) ist in vielen US-Museen vertreten, hatte aber hierzulande noch nie eine institutionelle Einzelausstellung. Das ändern die Hamburger Deichtorhallen im Oktober mit der ersten deutschen Werkschau – parallel dazu wird sie bei Aurel Scheibler gezeigt. Als Vorgeschmack bietet die Berliner Galerie das ausdrucksstarke Porträt „Nancy“ (1966) an: für einen „niedrigen siebenstelligen Betrag“, heißt es.