Sebastián Lelio

Eine fantastische Frau – Una Mujer Fantástica

Marina Vidal (Daniela Vega) gerät nach Orlandos Tod in eine schwierige Situation. Foto: Piffl Medien
(Kinostart: 7.9.) Fremd in der eigenen Haut: Im Film von Sebastián Lelio ringt eine Transsexuelle um Anerkennung in einer intoleranten Familie – schmerzhaftes wie ermutigendes Emanzipationsdrama über die Fallstricke sexueller Identitätsbehauptung.

Orlando (Francisco Reyes), ein charismatischer, älterer Mann verbringt einen Abend mit seiner jungen Freundin Marina (Daniela Vega). Sie gehen essen, tanzen miteinander, landen anschließend im Bett. In der Nacht wacht Orlando auf; es geht ihm schlecht. Marina bringt ihn sofort ins Krankenhaus, wo er stirbt. Der Arzt reagiert sichtlich irritiert auf Marina, obwohl sie sich trotz der schwierigen Situation angemessen verhält. Der Grund: In Marinas Ausweis steht ein Männername. Ihre persönliche und offizielle Identität passen nicht zueinander – das überfordert ihre Umwelt.  

 

Info

 

Eine fantastische Frau –
Una Mujer Fantástica

 

Regie: Sebastián Lelio,

104 Min., Chile/ Spanien/ USA 2017;

mit: Daniela Vega, Francisco Reyes, Nicolás Saavedra

 

Website zum Film

 

Regisseur Sebastián Lelio setzt dieses Irritationsmoment geschickt ein. Wenn Marina zum ersten Mal im Film auftritt, ist sie zweifellos eine Frau. Eine sehr attraktive: mit schulterlangen Haaren, muskulösen Armen und dunklen Augen. Erst die Reaktionen ihrer Umgebung lassen beim Zuschauer Zweifel aufkommen. Unwillkürlich sucht man in ihrem Gesicht und Körper nach Spuren des früheren Mannes.

Hass und Ablehnung 

 

Der Film macht spürbar, was es bedeutet, den ständigen Beobachtungen, wenn nicht gar offener Ablehnung seiner Mitmenschen ausgesetzt zu sein. Denn Marina wird von den meisten primär über ihre Sexualität beurteilt, alle anderen Aspekte ihrer Persönlichkeit werden davon überlagert. So fällt es Marina immer schwerer, ihre eigene Identität anzuerkennen. „Ich weiß nicht, was ich sehe, wenn ich dich anschaue. Ich sehe eine Chimäre“, sagt Orlandos Ex-Frau Sonia (Aline Küppenheim), als sie Marina zum ersten Mal gegenüber steht.

Offizieller Filmtrailer


 

Das eigene Geschlecht betrachten

 

Die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Sexualität kondensiert Regisseur Lelio in einer genialen Szene: Marina liegt seitlich nackt mit angewinkelten Beinen auf einem Bett und betrachtet ihr Geschlecht. Dann schwenkt die Kamera auf einen Kosmetikspiegel, der zwischen ihren Beinen liegt und ihr Gesicht zurückwirft. In diesem Bild offenbart sich der Wunsch, als Mensch wahrgenommen und nicht in eine Geschlechter-Schublade einsortiert zu werden.

 

Sonia und Bruno (Nicolás Saavedra), Orlandos erwachsener Sohn, behandeln Marina wie ein widerliches Insekt. Dass die Beziehung zwischen Orlando und seiner Geliebten mehr war als nur eine flüchtige Bettgeschichte, übersteigt ihren Horizont. Nach Orlandos Tod verbieten sie Marina, zu seiner Beerdigung zu kommen. Zumindest am Grab wollen die Verwandten die Dinge wieder „gerade rücken“.   

Emanzipation mit Schäferhund

 

Zuvor soll Marina das Auto von Orlando zurückgeben und aus seiner Wohnung verschwinden. Die Verachtung und Herablassung der Familie gegenüber Marina speist sich auch aus dem sozialen Gefälle. Während Orlando als Unternehmer zur oberen Mittelschicht zählte, hält sich Marina als Kellnerin über Wasser. Als Bruno ihr den von Orlando geliebten Schäferhund wegnimmt, beginnt sie sich zu wehren. Moralische Unterstützung erhält von ihrer Schwester und ihrem Gesangslehrer.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Gloria" – hinreißendes Porträt einer 58-jährigen Chilenin von Sebastián Lelio, prämiert mit Silbernem Bären 2013

 

und hier eine Besprechung des Films "Laurence Anyways" – bewegend romantisches Transsexuellen-Liebesdrama in Montréal von Xavier Dolan

 

und hier einen Bericht über den Episoden-Film "Paulista" von Roberto Moreira über Liebesglück und -leid von Großstädtern in São Paulo

 

und hier einen Beitrag über den Film "¡No!" – packendes Polit-Drama über das Ende der Pinochet-Diktatur in Chile von Pablo Larraín.

 

Letzterer ermuntert sie, nicht bei Salsa-Liedchen stehen zu bleiben, sondern ihr Talent dem klassischen Gesang zuzuwenden: Daniela Vega, die Marina glaubwürdig verkörpert, ist selbst ausgebildete Opernsängerin. Als Schauspielerin ist die Transfrau Autodidaktin; sie meistert ihre erste Hauptrolle bravourös. Ihre Figur findet aus dem Schneckenhaus heraus und erwacht zu neuer Stärke.

Surreale Szenen

 

Ihren Kampf um Anerkennung illustriert Regisseur Lelio mit einigen surrealen Szenen. Etwa wenn Marina sich gegen einen Wirbelsturm aus Blättern und Papier stemmt oder inmitten von Blitzlichtgewitter und techno-Gewummer in einem club als glitzernde, selbstbewusste Tänzerin imaginiert. Auch erscheint ihr der Verstorbene in Visionen immer wieder als stiller Unterstützer. Die exzellent fotografierten Bilder sind mit einem elektronischen score unterlegt, der vom britischen Experimental-Musiker Matthew Herbert stammt.

 

Eine starke Frauenfigur stand schon in Lelios letztem Film „Gloria“ im Mittelpunkt: Hauptdarstellerin Paulina García gewann 2013 einen Silbernen Bären für ihr Porträt einer alternden Chilenin auf der Suche nach Liebe. „Eine fantastische Frau“ ist ähnlich kompromisslos: In ganz Lateinamerika ist die Ablehnung von Homosexuellen und Menschen, die nicht in das klare Mann-Frau-Schema passen, weit verbreitet. Allerdings könnte Marinas Geschichte wohl überall spielen.