Den Filmemacher Khalid (Khalid Abdalla) bekümmern viele Sorgen. Seine Mutter liegt schwerkrank im Hospital. Seine Ex-Freundin Laila (Laila Samy) hat ihn verlassen und wird bald auswandern. In einem Monat muss er aus seiner Wohnung ausziehen; trotz emsigen Suchens hat er noch keine andere gefunden. Und mit dem Film, an dem er arbeitet, kommt er auch nicht voran. Ständig dreht er neues footage, immer wieder schaut er sich die Aufnahmen an – doch er findet einfach keine Struktur für sein Material.
Info
In den letzten Tagen der Stadt - In the Last Days of the City
Regie: Tamer El Said,
118 Min., Ägypten/ Deutschland/ Großbritannien 2016;
mit: Khalid Abdalla, Hanan Youssef, Laila Samy
Revolution nach Dreharbeiten-Ende
Dieses Wechselbad der Eindrücke erklärt sich zum Teil durch die lange und komplizierte Geschichte des Films. El Said drehte seinen Debütfilm 2009/10 mit geringem budget und einem kleinen team von Engagierten. Wenige Wochen nach Abschluss der Aufnahmen brach im Januar 2011 die ägyptische Revolution aus: Staatschef Mubarak wurde gestürzt, bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewannen die Muslimbrüder; dagegen putschte im Juli 2013 das Militär.
Offizieller Filmtrailer OmU
Zwei Regimewechsel vor Uraufführung
Unter solchen Umständen fiel es El Said nicht leicht, seinen Film fertig zu stellen; schließlich erlebte er seine Uraufführung im Februar 2016 auf der Berlinale. Damit ist er einerseits antiquiert: Seit den Dreharbeiten hat Ägypten schon zwei Regimewechsel erlebt. Andererseits erweist sich der Film als zeitlos: An dem, was seine Protagonisten beschäftigt, dürfte sich wenig verändert haben.
Die politische Großwetterlage seiner Entstehungszeit läuft auf der Tonspur mit: Krächzende Radio-Nachrichten verkünden stets die gleichen Beschwichtigungs-Formeln der Regierung, die x-te Nahost-Friedensinitiative und die Erfolge der Fußball-Nationalmannschaft. Gegenstimmen treten an jeder dritten Straßenecke auf: Demonstranten, die sich lautstark auf den wahren Islam berufen und die Regierung stürzen wollen – bewacht von Uniformierten, die sie mit Gummiknüppeln und Festnahmen einschüchtern.
Sichtbalken für nackte Schaufensterpuppen
Khalid bleibt schweigsamer Augenzeuge; wie auch bei häuslicher Gewalt, die er beobachtet und filmt, oder der Agonie seiner Mutter im Klinikbett. Nur im Gespräch mit seinen Filmemacher-Freunden zu Besuch, die sonst alle im Ausland leben, taut er auf. Sie erwägen diverse Varianten, doch kein Wohnort ist attraktiv: In Bagdad herrscht Bürgerkrieg, in Beirut sind Anschläge an der Tagesordnung, und der in Berlin lebende Exil-Iraker wirkt auf alle Anderen wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nach der Revolution – After the Battle" – facettenreiches Polit-Drama über den Umbruch in Ägypten von Yousry Nasrallah
und hier einen Bericht über den Film "Art War" - fulminante Doku über Street Artists in Kairo als Teil der Arabellion von Marco Wilms mit dem Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad
und hier eine Besprechung des Films "Hedis Hochzeit" - prägnantes Porträt eines jungen Tunesiers in der Post-Arabellion-Depression von Mohamed Ben Attia, prämiert mit Silbernem Bären 2016.
und hier einen Beitrag über den Film "Cinema Jenin" - Dokumentation über ein Kino in Palästina von Marcus Vetter
Letzte Tage der Mittelschicht-Stadt
Diese Szenen sind das Interessanteste am Film. Aus solchen Puzzleteilen setzt der Regisseur ein facettenreiches Porträt der Metropole zusammen, die immer noch das Herz der arabischen Welt ist, obwohl sie mit 20 Millionen Einwohnern samt Vororten aus allen Nähten platzt. Das fängt El Said prägnant ein: die prachtvollen, kaum verwitterten Art-Déco-Fassaden im Zentrum. Das Straßenkind, das an der Ampel wartenden Autofahrern Taschentücher verkauft. Die schmutzige Bettlerin, die im Rinnstein Obst isst. Alte Wohnhäuser, die zu Dutzenden abgerissen werden, um Platz für eine shopping mall zu schaffen. Und zahlreiche Impressionen mehr.
Sie beglaubigen den Abschiedsschmerz, der den Protagonisten verstummen lässt, weil ihm seine ganze Welt – privat, beruflich und öffentlich – zwischen den Fingern zerrinnt. Es sind die „letzten Tage der Stadt“ seiner Schicht: der gebildeten, säkularen oberen Mittelschicht, die zwischen autoritären Militärs und kleinbürgerlichen Islamisten zerrieben zu werden droht. Wenn sie emigriert, geht auch dieses sensible Gespür fürs Urbane verloren: Ein Film, der vor allem wegen seiner Schnittbilder lohnt.