Tamer El Said

In den letzten Tagen der Stadt – In the Last Days of the City

Khalid (Khalid Abdalla) will in seinem Film unbedingt den Geist von Kairo einfangen. Foto: Wolf Kino GmbH + Arsenal Distribution
(Kinostart: 7.9.) Kairo vor der Arabellion: Regisseur Tamer El Said porträtiert einen Filmemacher, den so viele Sorgen wie ganz Ägypten plagen – halb als mäandernde Nabelschau, halb als facettenreiches Momentaufnahmen-Puzzle der 20-Millionen-Metropole.

Den Filmemacher Khalid (Khalid Abdalla) bekümmern viele Sorgen. Seine Mutter liegt schwerkrank im Hospital. Seine Ex-Freundin Laila (Laila Samy) hat ihn verlassen und wird bald auswandern. In einem Monat muss er aus seiner Wohnung ausziehen; trotz emsigen Suchens hat er noch keine andere gefunden. Und mit dem Film, an dem er arbeitet, kommt er auch nicht voran. Ständig dreht er neues footage, immer wieder schaut er sich die Aufnahmen an – doch er findet einfach keine Struktur für sein Material.

 

Info

 

In den letzten Tagen der Stadt - In the Last Days of the City

 

Regie: Tamer El Said,

118 Min., Ägypten/ Deutschland/ Großbritannien 2016;

mit: Khalid Abdalla, Hanan Youssef, Laila Samy

 

Website zum Film

 

Streckenweise scheint das auch für diesen Film zu gelten. Wenn die Handkamera ziellos mäandert oder die Hauptfigur bei ihren täglichen Erledigungen im Gewühl von Kairos Innenstadt begleitet. Oder in langen Einstellungen sein verschlossenes, ratloses Antlitz mustert – da überträgt sich seine Frustration leicht auf den Zuschauer. Dann wieder gelingen Regisseur Tamer El Said so betörend elegische Passagen wie dem großen Melancholiker Andrej Tarkowskij in „Nostalghia“ (1983) – eine Symphonie des Verlustes voller bittersüßer Zwischentöne.

 

Revolution nach Dreharbeiten-Ende

 

Dieses Wechselbad der Eindrücke erklärt sich zum Teil durch die lange und komplizierte Geschichte des Films. El Said drehte seinen Debütfilm 2009/10 mit geringem budget und einem kleinen team von Engagierten. Wenige Wochen nach Abschluss der Aufnahmen brach im Januar 2011 die ägyptische Revolution aus: Staatschef Mubarak wurde gestürzt, bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewannen die Muslimbrüder; dagegen putschte im Juli 2013 das Militär.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Zwei Regimewechsel vor Uraufführung

 

Unter solchen Umständen fiel es El Said nicht leicht, seinen Film fertig zu stellen; schließlich erlebte er seine Uraufführung im Februar 2016 auf der Berlinale. Damit ist er einerseits antiquiert: Seit den Dreharbeiten hat Ägypten schon zwei Regimewechsel erlebt. Andererseits erweist sich der Film als zeitlos: An dem, was seine Protagonisten beschäftigt, dürfte sich wenig verändert haben.

 

Die politische Großwetterlage seiner Entstehungszeit läuft auf der Tonspur mit: Krächzende Radio-Nachrichten verkünden stets die gleichen Beschwichtigungs-Formeln der Regierung, die x-te Nahost-Friedensinitiative und die Erfolge der Fußball-Nationalmannschaft. Gegenstimmen treten an jeder dritten Straßenecke auf: Demonstranten, die sich lautstark auf den wahren Islam berufen und die Regierung stürzen wollen – bewacht von Uniformierten, die sie mit Gummiknüppeln und Festnahmen einschüchtern.

 

Sichtbalken für nackte Schaufensterpuppen

 

Khalid bleibt schweigsamer Augenzeuge; wie auch bei häuslicher Gewalt, die er beobachtet und filmt, oder der Agonie seiner Mutter im Klinikbett. Nur im Gespräch mit seinen Filmemacher-Freunden zu Besuch, die sonst alle im Ausland leben, taut er auf. Sie erwägen diverse Varianten, doch kein Wohnort ist attraktiv: In Bagdad herrscht Bürgerkrieg, in Beirut sind Anschläge an der Tagesordnung, und der in Berlin lebende Exil-Iraker wirkt auf alle Anderen wie ein Fisch auf dem Trockenen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nach der Revolution – After the Battle" – facettenreiches Polit-Drama über den Umbruch in Ägypten von Yousry Nasrallah

 

und hier einen Bericht über den Film "Art War" - fulminante Doku über Street Artists in Kairo als Teil der Arabellion von Marco Wilms mit dem Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad

 

und hier eine Besprechung des Films "Hedis Hochzeit" - prägnantes Porträt eines jungen Tunesiers in der Post-Arabellion-Depression von Mohamed Ben Attia, prämiert mit Silbernem Bären 2016.

 

und hier einen Beitrag über den Film "Cinema Jenin" - Dokumentation über ein Kino in Palästina von Marcus Vetter

 

Da erscheint Kairo noch als das geringere Übel; immerhin kann man hier noch abends unbeschwert mit Freunden ein Bier trinken. Obwohl die Hauptfigur ständig Signale registriert, dass sich das bald ändern könnte: Sobald er im Fahrstuhl den Etagen-Knopf drückt, plärrt ein Lautsprecher fromme Sprüche. Eine voll verschleierte Vormieterin lehnt eine Wohnungsbesichtigung ab, solange kein Mann im Haus ist. Und Dekorateure kleben Auslagen mit Zeitungen ab, damit unbekleidete Schaufensterpuppen keinen Anstoß erregen.

 

Letzte Tage der Mittelschicht-Stadt

 

Diese Szenen sind das Interessanteste am Film. Aus solchen Puzzleteilen setzt der Regisseur ein facettenreiches Porträt der Metropole zusammen, die immer noch das Herz der arabischen Welt ist, obwohl sie mit 20 Millionen Einwohnern samt Vororten aus allen Nähten platzt. Das fängt El Said prägnant ein: die prachtvollen, kaum verwitterten Art-Déco-Fassaden im Zentrum. Das Straßenkind, das an der Ampel wartenden Autofahrern Taschentücher verkauft. Die schmutzige Bettlerin, die im Rinnstein Obst isst. Alte Wohnhäuser, die zu Dutzenden abgerissen werden, um Platz für eine shopping mall zu schaffen. Und zahlreiche Impressionen mehr.

 

Sie beglaubigen den Abschiedsschmerz, der den Protagonisten verstummen lässt, weil ihm seine ganze Welt – privat, beruflich und öffentlich – zwischen den Fingern zerrinnt. Es sind die „letzten Tage der Stadt“ seiner Schicht: der gebildeten, säkularen oberen Mittelschicht, die zwischen autoritären Militärs und kleinbürgerlichen Islamisten zerrieben zu werden droht. Wenn sie emigriert, geht auch dieses sensible Gespür fürs Urbane verloren: Ein Film, der vor allem wegen seiner Schnittbilder lohnt.