Ildikó Enyedi

Körper und Seele

Maria (Alexandra Borbély) horcht auf ihr Inneres. Foto: Alamode Film
(Kinostart: 21.9.) Traumdeutung für Verliebte: Zwei Schlachthof-Kollegen in Budapest kommunizieren miteinander im Schlaf. Für ihre poetisch schillernde Liebesgeschichte findet die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi traumschöne Bilder – der Berlinale-Gewinner 2017.

Ein ganz und gar ungewöhnlicher Liebesfilm: Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi lässt zwei an Körper und Seele gleichermaßen verwundete Menschen ausgerechnet in einem Schlachterei-Betrieb aufeinander treffen – sie sind Arbeitskollegen. Endre (Géza Morcsányi), ein Mittfünfziger mit gelähmtem linken Arm, verwaltet die Finanzen eines modernen Schlachthofs in Budapest sorgfältig und gewissenhaft.

 

Info

 

Körper und Seele

 

Regie: Ildikó Enyedi,

114 Min., Ungarn 2017;

mit: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi, Zoltán Schneider

 

Website zum Film

 

Wie effizient organisiert es dort zugeht, zeigt die Regisseurin in schonungslos unaufgeregten Bildern. Die Tötung von Rindern läuft präzise und hygienisch ab; in wenigen Sekunden wird aus einem atmenden Lebewesen ein unbeseeltes Objekt. Routiniert führen die Beschäftigten stets dieselben Handlungen aus: Anfangs schieben sie lebendige Tiere in eine Halle, wenig später ist ihr Fleisch verzehrfertig portioniert. Und doch: „Ohne etwas Mitleid für sie zu empfinden, kann man diese Arbeit nicht machen“, sagt Endre zu einem Bewerber: „Sonst geht man daran kaputt.“

 

Leicht autistische Fleischbeschauerin

 

Die neue Qualitäts-Kontrolleurin Maria (Alexandra Borbély) fällt bei der übrigen Belegschaft sofort in Ungnade, weil sie unnahbar und einsilbig auftritt. Offenbar leidet die verschlossene junge Frau am Asperger-Syndrom, also einer leichten Form von Autismus. Ihr ausgeprägter Ordnungszwang erschwert ihr den Umgang mit Menschen; Emotionen und Berührungen ängstigen Maria, die sich in Einsamkeit und Stille flüchtet.

Offizieller Filmtrailer


 

Doppel-Traum von Hirsch + Hirschkuh

 

Auch Endre, der am Arbeitsplatz stets souverän auftritt, meidet privat andere Leute. Sein Feierabend verläuft mit Abendbrot und TV jeden Tag gleich: Er hat sich in ein monotones, aber risikoarmes Leben zurückgezogen. Dann bringt ein betriebsinterner Diebstahl seine Routine durcheinander. Alle Mitarbeiter müssen bei einer Psychologin (Réka Tenki) antreten und ihr Innenleben ausbreiten.

 

Dabei stellt sich heraus: Maria und Endre erleben die gleichen Träume. Ihnen erscheinen allnächtlich in einem schneebedeckten Wald ein Hirsch und eine Hirschkuh, die offenkundig ein Paar sind. Beide sind zunächst peinlich berührt, wollen aber das Gefühl von Nähe und Vertrautheit aus ihren Träumen nicht missen. Trotz aller Vorbehalte und Hindernisse versuchen sie, sich auch im Wachzustand näher zu kommen.

 

Schlachthof als doppeltes Spiegelbild

 

Dafür konsultiert Maria ihren Therapeuten; er rät ihr zum Kauf eines Stofftiers, um Berührungen zu üben. Später legt sie ihre Hände lange auf das warme Fell einer Kuh im Schlachthof – zur Überraschung ihrer Kollegen. Endre stellt sich ähnlich ungelenk an, wenn er Maria in sein „Lieblingsrestaurant“ einlädt – das leere Lokal hat seine besten Zeiten seit Jahren hinter sich. Dennoch nähern sich Maria und Endre Schritt für Schritt einander an – und finden ihre eigene Sprache der Liebe.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Lachsfischen im Jemen" - originelle Romcom über Fischerei-Experten mit Asperger-Syndrom von Lasse Hallström mit Ewan McGregor + Kristin Scott Thomas

 

und hier einen Bericht über den Film "Just the wind - Csak a szél" - Drama über eine Roma-Familie in Ungarn von Bence Fliegauf

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Turiner Pferd" - brillantes Drama über Bauern-Elend in Ungarn von Béla Tarr, mit dem Silbernen Bären 2011 prämiert.

 

Für ihre so schlichte wie eindrucksvolle Beziehungsanbahnung hat Regisseurin Enyedi eine geniale Kulisse gewählt: Schlachthäuser sind als Orte massenhaften Tötens einerseits Tabuzonen, andererseits auch Schauplätze elementarer kreatürlicher Zustände. Ins Korsett technisierter und steriler Produktionsabläufe gepresst – als äußeres Spiegelbild der beiden Protagonisten, die in Hemmungen be- und gefangen sind. Wie auch des ganzen Landes, das sich unter dem autoritär-nationalistischen Regime von Viktor Orbán zunehmend isoliert.

 

Als ob alles zufällig geschehe

 

All das zeigt die Regisseurin in bestechend klaren und schnörkellosen Bildern mit einer Prise feinsinnigen Humors. Enyedi treibt die Handlung lakonisch und entschieden voran; aber so zart und leichtfüßig, als würde sich die Geschichte ganz zufällig ergeben. Dazu tragen auch die beiden charismatischen Hauptdarsteller bei, indem sie die allmähliche Wandlung ihres Gefühlslebens sehr nuanciert ausspielen.

 

Was als pseudodokumentarische Reportage aus der Arbeitswelt beginnt, wird zum unwahrscheinlichsten Liebesfilm des Kinojahres: voller eigenwilliger Romantik, die gewöhnlichen Alltag in betörend traumschöne Bilder bannt. Kein Wunder, dass die Berlinale-Jury im Februar davon bezaubert war: Sie kürte „Körper und Seele“ zum Berlinale-Sieger.