Münster

Skulptur Projekte Münster 2017

Nicole Eisenman: Sketch for a fountain. © Skulptur Projekte 2017, Foto: Henning Rogge
Dabei sein ist alles: Diese Freiluft-Skulpturenschau findet nur alle zehn Jahre statt. Also strömt das Publikum nach Münster – obwohl die Macher ihr Konzept so verwässert haben, dass von Plastiken im öffentlichen Raum wenig zu sehen ist.

Wer sich rar macht, wird umso interessanter: Das ist den nur alle zehn Jahre veranstalteten „Skulptur Projekte Münster“ (SPM) bestens gelungen. Als Kasper König, später langjähriger Leiter der Frankfurter Städelschule und des Kölner Museums Ludwig, die SPM gemeinsam mit Klaus Bußmann 1977 erfand, ging es zunächst um regionale Fortbildung. Vier Jahre zuvor hatten sich Münsteraner über eine Freiluft-Skulptur von George Rickey empört; nun sollte ihnen im öffentlichen Raum die Bandbreite und Vielfalt zeitgenössischer Kunst vorgeführt werden.

 

Info

 

Skulptur Projekte Münster 2017

 

10.06.2017 - 01.10.2017

täglich 10 bis 20 Uhr,
freitags bis 22 Uhr

an diversen Orten in Münster

 

Katalog 15 €

 

Website zur Ausstellung

 

Daraus ist 40 Jahre später ein weltweit beachtetes Groß-Spektakel geworden. Die SPM laufen zeitgleich zur documenta im gut zwei Autostunden entfernten Kassel; viele Kultur-Touristen nutzen die Gelegenheit zum Doppel-Besuch. Findet in solchen Jahren auch noch die Biennale in Venedig statt, wird es zum „Superkunstjahr“ hochgejazzt. Alles dank der raffinierten Verknappungs-Taktik von Kaspar König: Er hat stets auf dem Zehn-Jahres-Rhythmus bestanden – weil eine kürzere Taktung den Reiz nur mindern kann.

 

Entgrenzung wie bei documenta

 

Bei den diesjährigen SPM tritt der 73-jährige König letztmals als „künstlerischer Leiter“ auf, der sich ums große Ganze kümmert. Das Tagesgeschäft überlässt er zwei jüngeren Kuratorinnen: Britta Peters und Marianne Wagner wollen mit ihrer Auswahl von 35 Teilnehmern offenbar demonstrieren, dass sie alle heutigen Kunst-Tendenzen im Blick haben und souverän ein Best-of zusammenstellen können. Damit handeln sich die SPM ein Entgrenzungs-Problem ein – vergleichbar mit der documenta 14.

Interview mit Kuratorin Marianne Wagner + Impressionen der Ausstellung


 

Hauptsache aktuell, Form ist zweitrangig

 

Das Team um documenta-Leiter Adam Szymczyk pfiff auf künstlerische Formen und setzte allein auf politische Korrektheit: Alles, was zu Befreiung und Weltrettung beiträgt, ist der Präsentation wert – egal in welchem Aggregatzustand, aber an zwei Ausstellungs-Orten. So fanden sich in Athen und Kassel auch selfies verstorbener Transgender-Behinderter und Prozessakten von Zwangsschlachtungs-Verfahren.

 

In Münster gilt ein ähnliches Dogma: Alles, was mit „Körper, Zeit und Ort angesichts von Digitalisierung, Globalisierung und neuen Ökonomien, Aspekten der Grenze, mit Migration, Verdrängung“ usw. zu tun hat, wird hineingepackt. Ob es sich um Skulpturen handelt, ist eher zweitrangig – doch wie bei der documenta muss ein weit entfernter Zweitstandort her: das Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl.

 

Smartphone-Kurzfilme + Schlager-Videos

 

Damit verzichten die SPM auf ihren USP: eine Ausstellung von outdoor-Plastiken im Stadtgebiet zu sein. Was ihre Macher natürlich bestreiten, indem sie ihren Skulpturen-Begriff so ausdehnen und verwässern, dass alles Mögliche dazu passt – etwa diverse Filmaufnahmen. So Doku-Bilder eines Radiostudios, die der Ire Gerard Byrne in der Stadtbücherei zeigt. Die Argentinierin Mika Rottenberg führt ihre Filme von Tunnels und Basaren in Mexiko und China im „Asia-Laden“ voller Ramsch auf. Andreas Bunte spart sich gleich jede Projektionsfläche: Seine Kurzfilme alltäglicher Vorgänge soll man auf smartphones betrachten.

 

Noch höher im Kurs stehen Anleihen bei darstellenden Künsten, bei denen es anheimelnd menschelt. Benjamin de Burca und Bárbara Wagner ließen Schlager-fans beliebte Lieder nachsingen und nudeln diese Musik-Videos in einer Innenstadt-disco ab. Die Rumänin Alexandra Pirici füllt den Friedenssaal des Rathauses mit einer Pantomime-performance. Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen führen im Pumpenhaus Kabuki-Theater auf.

 

Rentner-Rabatt im Tattoo-Studio

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Sculpture on the Move 1946–2016" – Eröffnungs-Schau im Erweiterungsbau des Kunstmuseums Basel

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Louise Bourgeois – Strukturen des Daseins: Die Zellen" – große Retrospektive der franko-amerikanischen Bildhauerin im Haus der Kunst, München

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Vor dem Gesetz" mit "Skulpturen der Nachkriegszeit und Räumen der Gegenwartskunst" – letzter Auftritt von Kaspar König als Kurator im Museum Ludwig, Köln

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Bios - Konzepte des Lebens in der zeitgenössischen Skulptur" im Georg Kolbe Museum, Berlin.

 

Besonders gewitzte Teilnehmer lassen ihre Werke von der ortsansässigen Bevölkerung herstellen. Der Japaner Koki Tanaka hat acht Münsteraner bei einem „Besser-leben“-Seminar gedreht und zeigt die Mitschnitte in einer Gasse. Michael Smith aus New York hat ein „Tattoo-Studio“ beauftragt, Pensionäre vergünstigt zu tätowieren. Xavier le Roy und Scarlet Yu aus Paris laden zu workshops ein, erklären ihre Skulptur-Auffassung als „Abfolge verschiedener Bewegungen und Dialoge“ – und überlassen alles Weitere den Fortgebildeten.

 

Zwischen all diesen immateriell-flüchtigen Beiträgen finden sich tatsächlich auch ein paar Skulpturen im Sinne von dreidimensionalen Objekten. SPM-Dauergast Thomas Schütte steuert einen „Nuclear Temple“ bei, der wie eine byzantinische Kapelle aus Roststahl aussieht. Nicole Eisenman verteilt androgyne Faulenzer aus Gips und Bronze lässig um ein Wasserbecken. Die Italienerin Lara Favaretto stellt eine überdimensionale Sparbüchse aus schroffem Gestein auf. Der New Yorker Justin Matherly modelliert einen Alpen-Felsen, der einst Nietzsche inspiriert haben soll, aus Beton nach: so erhaben wie erratisch, aber zweifelsfrei eine Plastik.

 

Im Hafen übers Wasser wandeln

 

Einige Installationen schaffen es sogar, auf ihren jeweiligen Standort einzugehen. Hervé Youmbi aus Kamerun verbindet zwei Gedenk-Kulturen, indem er in einem früheren Waldfriedhof afrikanische Masken und Totems aufhängt, die traditionelle Perlenstick-Technik mit Popkultur-Formen kombinieren. Der Franzose Pierre Huyghe verwandelt eine stillgelegte Eislaufhalle mit massiven Ausschachtungs-Arbeiten in ein beeindruckendes Szenario zwischen Monument Valley und Mondlandschaft. Und die Türkin Ayşe Erkmen lässt die Besucher übers Wasser wandeln: auf einem unsichtbaren Steg durchs Hafenbecken.

 

Womit sie als eine von wenigen Teilnehmern die SPM vor der völligen Beliebigkeit bewahrt. Was ihre Attraktivität nicht mindert: Bei dieser Ausgabe ging bereits mehr als eine halbe Million Besucher auf Schnitzeljagd durchs Stadtgebiet. Es ist wie bei den zahlreichen Mega-Rockfestivals in jedem Sommer: Eigentlich kann man mit den meisten bands im line-up wenig anfangen – doch dabei sein ist alles.