Ein großer Unzeitgemäßer: Lucian Freud (1922-2011) malte sein Leben lang vor allem Porträts von Menschen und Tieren – obwohl solcher Realismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als altbacken verpönt war. Fast ist man versucht, sein Interesse an der conditio humana als Familienerbe zu deuten: Er war Enkel von Sigmund Freud (1856-1939), dem Begründer der Psychoanalyse.
Info
Lucian Freud: Closer - Radierungen aus der UBS Art Collection
22.07.2017 - 22.10.2017
täglich außer dienstags
10 bis 19 Uhr
im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Berlin
Katalog 27 €
Nahezu überdeutliche Porträts
Neben anderen figurativ arbeitenden Künstlern wie seinem langjährigen Freund Francis Bacon, Frank Auerbach, Leon Kossoff oder R.B. Kitaj wurde Freud zur „School of London“ gezählt. In diesem Kreis hatte er eine Ausnahmestellung inne: durch seine schonungslos naturalistischen Porträts, die den Dargestellten so nah auf den Leib rückten, dass sie fast überdeutliche Züge annahmen.
Impressionen der Ausstellung
Isolierte Modelle schweben im Raum
Freud ist vor allem für seine pastose Malerei in erdigen Tönen bekannt, die er in ausufernd langen Sitzungen mit seinen Modellen anfertigte. Dass er auch eindrucksvolle Grafik schuf, zeigt nun die Ausstellung „Closer“ im Martin-Gropius-Bau anhand von 51 Radierungen, ergänzt um ein Aquarell und zwei Gemälde. Alle Arbeiten stammen aus der Kunstsammlung der Schweizer Großbank UBS – eine der seltenen Gelegenheiten, Freuds Werk hierzulande zu begutachten. Die letzte große Retrospektive im deutschsprachigen Raum fand 2013 in Wien statt.
Fast alle ausgestellten Radierungen entstanden in den 1980/90er Jahren. Meist isolierte Freud seine Modelle vollständig von ihrer Umgebung; sie schweben gleichsam frei im Raum in ihrer jeweiligen Körperhaltung. Die erscheint oft seltsam verdreht, weil die Porträtierten auf Sitzmöbeln oder Betten lagern oder liegen, die aber nicht zu sehen sind. Dadurch treten ihre körperlichen Besonderheiten umso markanter hervor – zumal sie oft nackt sind.
Expressionistische Überprägnanz
Geradezu obsessiv beobachtet Freud präzise alle Eigenarten der Körperoberfläche; er hält jede Falte, jede Pore und jedes Haar fest. Fettwülste, Hautunreinheiten und Alterungsspuren überträgt der Künstler unbarmherzig mit feinen Strichen und Schraffuren auf die Kupferplatte. Dabei ignoriert er oft souverän Linearperspektive und Symmetrie; viele Partien wirken wie herangezoomt und verleihen diesen Porträts expressionistische Überprägnanz.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung „Das nackte Leben: Bacon, Freud, Hockney und andere“ - „Malerei in London 1950-80" mit Werken von Lucian Freud im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Francis Bacon – Unsichtbare Räume" - ausgezeichnete Retrospektive des britischen Künstlers in der Staatsgalerie, Stuttgart
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Double Vision: Albrecht Dürer & William Kentridge" - vergleichende Grafik-Schau des Renaissance- und des Gegenwarts-Künstlers in Berlin + Karlsruhe
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "R.B. Kitaj (1932 – 2007) Obsessionen" - Werkschau im Jüdischen Museum Berlin + in der Hamburger Kunsthalle.
Alle Frauen werden Charakterköpfe
Über Bowery lernte Freud die massige Sozialamts-Angestellte Sue Tilley kennen, die er ebenfalls mehrfach porträtierte. Auf dem Großformat „Benefits Supervisor Sleeping“ von 1995 ist sie nackt auf einem Sessel eingenickt: Ihre voluminösen Glieder schieben sich mit allerlei Wölbungen und Quetschungen übereinander. Dieses Körperbild ist so meilenweit von gelackter Hochglanz-Ästhetik entfernt, dass es selbstbewusste Würde ganz eigener Art ausstrahlt.
Ohnehin kümmerte das gängige weibliche Schönheitsideal den Künstler nicht. Stattdessen heben seine Frauen-Antlitze mit differenziert modellierten Schattenzonen und ausdrucksstarken Augen, ob offen oder geschlossen, das jeweils Individuelle der dargestellten Damen hervor: Sie sind allesamt Charakterköpfe. Sein Werk sei im Grunde rein autobiographisch, bemerkte der zurückgezogen lebende Freud dazu: Er male nur Menschen, die ihn interessierten und ihm etwas bedeuteten – und nur in Räumen, die er gut kenne.
Schauplätze gelebten Lebens
Das macht diese Arbeiten paradoxerweise so zeitlos: Man muss weder die Dargestellten noch ihre Geschichte kennen, um sich in ihre Körperlandschaften zu vertiefen. Auf welche Weise sie Freud nahe standen, ist unerheblich. Jede Person repräsentiert nur sich selbst, als Schauplatz ihres eigenen gelebten Lebens – und wird damit im Virtualisierungswahn unserer Zeit zum memento für die Verletzlichkeit des Leibes.