Es ist der wohl exklusivste Club der Kunstgeschichte: Nur eine Handvoll Maler können sich rühmen, ein ganz neues genre begründet zu haben. Einer von ihnen ist Otto Marseus van Schrieck (1620-1678): Er erfand das Waldboden-Stillleben, auf Italienisch: sottobosco. Als erster Künstler überhaupt lenkte er seinen Blick auf das Unterholz und alles, was dort kreucht und fleucht – das galt vorher nicht als bildwürdig.
Info
Die Menagerie der Medusa - Otto Marseus van Schrieck und die Gelehrten
07.07.2017 - 15.10.2017
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr
in der Galerie Alte & Neue Meister, Alter Garten 3, Schwerin
Katalog 29,95 €
Malervirtuose + Naturforscher
Nach seinem Tod jedoch galten seine Bilder bald nur noch als Kuriositäten; ihr Schöpfer wurde kaum beachtet. Umso verdienstvoller ist diese Retrospektive im Staatlichen Museum Schwerin mit rund 30 eigenhändigen Gemälden und etwa gleich vielen von Zeitgenossen und Nachfolgern. Sie erinnert nicht nur an den virtuosen Maler, sondern auch an einen innovativen Naturforscher.
Impressionen der Ausstellung
Kollegen nannten ihn den „Schnüffler“
Schwerin besitzt mit sieben Gemälden den zweitgrößten Werkkomplex von Marseus. Der größte, nämlich 15 Bilder, ist in Florenz zu finden: Cosimo de‘ Medici war von ihm sehr angetan. Als er 1667 Amsterdam besuchte, empfing er Marseus als ersten Maler, noch vor Rembrandt. Der Kontakt zum Florentiner Herrscherhaus dürfte aber deutlich früher entstanden sein: Der in Nijmwegen geborene Künstler ging 1648 nach Italien und lebte mindestens bis 1655 in Rom. Seine Rückkehr lässt sich nicht genau datieren, denn er hinterließ keine Schriften; so bleibt in seiner Biographie manches im Ungefähren.
Klar ist jedoch, dass er in Italien zu seinen Waldboden-Stillleben fand. Seine holländischen Künstler-Kollegen in Rom gaben ihm den Spitznamen „der Schnüffler“, weil er ständig darauf achtete, was zu seinen Füßen wuchs und wimmelte. Anfangs rückte er Pilze ins Zentrum, bevölkerte aber rasch die Leinwand mit immer mehr Kleingetier. Marseus entwickelte ein umfangreiches repertoire an Fauna und Flora, das er in diversen Variationen kombinierte.
Bilder-Schmetterlinge mit echten Flügeln
Hauptakteur der meisten Bilder waren eine oder mehrere Schlangen. Ihre Schuppenhaut und Körperdrehungen gab er brillant wieder; dabei scherte er sich zugunsten dramatischer Szenen wenig um Naturtreue. Marseus‘ Schlangen reißen meist angriffslustig ihre Mäuler auf und entblößen – eine anatomische Besonderheit – das Ende ihrer Luftröhre im Unterkiefer. Dabei winden sie sich abenteuerlich durch die Luft, was reale Vorbilder nicht können, und jagen oft fliegenden Schmetterlingen hinterher. Das fiele echten Schlangen nie ein.
Falter sind die andere Lieblings-Spezies des Malers. In allen Farben und Formen gaukeln sie lebensgroß durch die Bildräume und setzen im tonig dunklen Wurzelwerk leuchtende Akzente. Für schillernde Effekte drückte Marseus in noch feuchte Ölfarbe sogar echte Schmetterlingsflügel, die längst zerfallen sind; nun sehen solche Partien wie tote Motten aus.
Falter + Schlange sind Gut + Böse
Häufig tauchen auch Kröten und Eidechsen auf, außerdem Schnecken, Mäuse und Vögel. Dazu kommen Insekten aller Art: langbeinige Heuschrecken in gewagten Stellungen, Käfer und Skorpione, Raupen und Fliegen. Diese Menagerie, die so in der Wirklichkeit nie zusammen käme, hat nicht nur dekorative Funktion; sie bebildert zugleich symbolische wie naturkundliche Botschaften.
Schlangen gelten seit dem Sündenfall als Inbegriff des Bösen. Für den Trick mit dem Apfel strafte sie Gott durch den Verlust ihrer Beine; seither müssen sie mühsam durch die Welt kriechen. Schwerelos flatternde Schmetterlinge sind hingegen Sinnbilder der Seelen. Eine Schlange, die nach einem Falter hascht, bedroht also das Seelenheil – im ewigen Kampf zwischen Gut und Böse.
Kröten sind Blei, Eidechsen Quecksilber
Im Weltbild der Alchemisten waren Kröten Symbole für das Schwermetall Blei, das zu Gold geläutert werden sollte; sehr bewegliche Eidechsen vertraten das flüssige Quecksilber. So enthielt jede Tier-Darstellung für Eingeweihte einen tieferen Sinn. Im 17. Jahrhundert waren solche Bedeutungen jedem Gebildeten geläufig; viele Künstler, die ihre Farben und Werkstoffe selbst herstellten, praktizierten ebenso Alchemie.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Barock - Nur schöner Schein?" über Künste + Wissenschaften des Barock-Zeitalters in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
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und hier eine Rezension der Ausstellung "Kunst und Alchemie – Das Geheimnis der Verwandlung" über den Einfluss der Alchemie auf die Künste im Museum Kunstpalast, Düsseldorf
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Der Löwen-Kuhnert – Afrikas Tierwelt in den Zeichnungen von Wilhelm Kuhnert" in der Alten Nationalgalerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Raden Saleh (1811–1880): Ein javanischer Maler in Europa" - auf Tierbilder spezialisierter indonesischer Maler im Lindenau-Museum, Altenburg.
Krötenküsser mit zahmen Schlangen
Er lebte mit seiner Frau vor den Toren Amsterdam auf einem Grundstück, das „Waterrijk“ („Wasserreich“) hieß. Dort züchtete er Schlangen, Kröten und andere Kleintiere – als Studienobjekte und Modelle für seine Bilder. Weshalb man ihm seltsame Neigungen nachsagte: Er küsse seine Kröten und liebe sie zärtlich, hieß es. Oder: Seine zutraulichen Schlangen würden so lange still verharren, bis er sie fertig gemalt habe.
Das gehört sicher ins Fabelreich, doch gewiss ist: Marseus war mit führenden Köpfen seiner Zeit befreundet, etwa dem Biologen Johannes Swammerdam oder dem Universalgelehrten Johannes Hudde. Sie alle untersuchten in heimischen Laboren Tiere und publizierten darüber Schriften, die europaweit gelesen wurden; damals waren die Niederlande das Zentrum der neuen Wissenschaften. Im so informativen wie ansprechend gestalteten Katalog wird dieses produktive Netzwerk von do-it-yourself-Naturkundlern anschaulich erläutert.
Keine Medusa von Marseus
Marseus selbst wird die Entdeckung zugeschrieben, dass in Raupenpuppen nur dann Fliegen schlüpfen, wenn zuvor eine Fliege dort ihre Eier abgelegt hat. Das war ein gewichtiges Argument gegen die herkömmliche Lehre von der Spontangenese: Bislang hatte man geglaubt, niedere Tiere entstünden ohne Zeugung allein aus Erde, Fäulnis und ähnlichen Stoffen.
Sein Interesse an Zoologie hinderte ihn nicht, sein Spätwerk auf Pflanzen zu konzentrieren. Das Gewimmel in Bodennähe nimmt ab, stattdessen dominieren die Bilder detailliert dargestellte Disteln, Ranken oder bunte Exoten wie Amaranth. Nur das Schlangenhaupt der Medusa, nach der die Ausstellung benannt ist, hat Marseus nie gemalt: Das hatte schon vor seiner Geburt Peter Paul Rubens 1617/8 so schön schrecklich getan, dass auch der Kriechtier-Spezialist dies nicht hätte übertrumpfen können.