Jürgen Vogel

Der Mann aus dem Eis

Kelab (Jürgen Vogel) erreicht den Gipfel. Foto: © Port au Prince Pictures, Martin Rattini
(Kinostart: 30.11.) Brandstiftung, Sippenmord und Blutrache vor 5000 Jahren: Das mögliche Leben der Ötzi-Gletschermumie rekonstruiert Regisseur Felix Randau als packendes Helden-Epos mit Jürgen Vogel in grandioser Bergkulisse – ein brillantes Kino-Experiment.

Ein biopic über eine der ältesten Mumien der Welt zu drehen – auf diese Idee muss man erst einmal kommen! Sie fiel Regisseur Felix Randau auf dem Flohmarkt in die Hände: in Form eines alten „Stern“-Magazins, dessen Titelgeschichte dem 1991 gefundenen Ötzi gewidmet war. Nun hat Randau ein denkbares Porträt dieses Mannes gefilmt, der vor rund 5300 Jahren lebte: so realistisch wie nötig und so originell wie möglich.

 

Info

 

Der Mann aus dem Eis

 

Regie: Felix Randau,

96 Min., Deutschland/ Italien/ Österreich 2017;

mit: Jürgen Vogel, Sabin Tambrea, André M. Hennicke

 

Website zum Film

 

Die Gletschermumie war in 3200 Meter Höhe in den Ötztaler Alpen entdeckt worden: als bislang einzige Leiche aus der Jungsteinzeit, die durch natürliche Gefriertrocknung konserviert wurde. Als der Mann starb, war er etwa 45 Jahre alt, 1.60 Meter groß und wog rund 60 Kilogramm. Forscher haben viele Einzelheiten seines Lebens und Todes herausgefunden.

 

Steinbock-Mahl vor Mord

 

Er wurde von hinten aus größerer Distanz mit einem Pfeil erschossen; der traf ihn unter der linken Schulter, woran er verblutete. Zuvor hatte er eine größere Menge getrocknetes Steinbock-Fleisch und Getreide gegessen. Ötzi trug Kleidung aus Schafs-, Ziegen- und Bärenfellen sowie Fellschuhe; er führte als Waffen ein Kupferbeil, einen Feuerstein-Dolch plus Pfeil und Bogen mit sich. Diese wertvollen Gegenstände nahm ihm keiner weg; er wurde also nicht Opfer eines Raubmords. Mehr als 60 Tätowierungen mit Kohlestaub in kleinen Wunden deuten auf eine höhere soziale Stellung hin; vielleicht war er eine Art Schamane.

Offizieller Filmtrailer


 

Tod + neues Leben in einer Nacht

 

Um diese wissenschaftlichen Befunde strickt Regisseur Randau eine Geschichte, die sehr schlüssig wirkt, obwohl sie frei erfunden ist – se non è vero, è ben trovato. Sie beginnt in einer kleinen Siedlung im Südtiroler Gebirge: Eines Nachts stirbt eine junge Frau bei der Geburt ihres Kindes. Dorfvorsteher Kelab (Jürgen Vogel) begräbt feierlich die Tote und heißt das Neugeborene willkommen.

 

Während Kelab anderntags jagt, überfällt der Eindringling Krant (André M. Hennicke) mit seinen Söhnen den Weiler. Das Trio raubt einen kleinen Schrein, offenbar der kostbarste Besitz der Sippe, tötet alle Bewohner und brennt die Hütten nieder. Bei seiner Rückkehr steht Kelab vor rauchenden Trümmern; rasend vor Wut nimmt er die Verfolgung der Mordbuben und Brandstifter auf.

 

Archaischer Alltag vor 5000 Jahren

 

Das Handlungsmuster des einsamen Rächers, der Vergeltung für seine zerstörte Existenz sucht, ist aus dem Western vertraut – doch es findet sich schon in ältesten Menschheits-Epen. Insofern ist es plausibel, dass Regisseur Randau darauf zurückgreift, samt weiterer geläufiger Episoden: etwa der Begegnung mit einem weisen Alten (Franco Nero), dessen schöne Tochter prompt versucht, den Helden zu verführen. Oder sein Aufeinandertreffen mit Unschuldigen, die er zu Unrecht verdächtigt – was einen neuen Kreislauf der Gewalt auslöst.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Kunst der Vorzeit - Felsbilder aus der Sammlung Frobenius" – faszinierende Überblicks-Schau über prähistorische Kunst im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Krieg – eine archäologische Spurensuche" über seine Entstehung vor rund 10.000 Jahren im Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle/ Saale

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das finstere Tal" – perfekter Western in den Südtiroler Alpen nahe des Ötzi-Fundorts von Andreas Prochaska

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Die Kelten - Druiden. Fürsten. Krieger" – hervorragende Gesamtdarstellung dieser antiken Kultur in der Völklinger Hütte.

 

Nicht der plot macht diesen Film so faszinierend, sondern sein setting: eine archaische Welt, in der weit verstreute, kleine Gruppen ihr Überleben mit einfachsten Mitteln sicherstellen müssen. Wie einst Mahlzeiten zubereitet, Kleidung angefertigt und rituelle Handlungen praktiziert wurden, führt Regisseur Randau so anschaulich wie unangestrengt vor. Mit eigener Sprache: ein Linguist hat sie aus Zeugnissen des Rätischen konstruiert, das im Alpenraum in vorrömischer Zeit verwendet wurde.

 

Hochgebirge als Hauptdarsteller

 

Über Prähistorisches gibt es kaum seriöse Spielfilme; eines der wenigen Beispiele gelang Jean-Jacques Annaud 1981 mit „Am Anfang war das Feuer“. Meist mutieren solche Versuche zu beliebiger fantasy; dafür wird am Computer allerlei Augenpulver zusammengerührt, das irgendwie vorzeitlich aussieht, wie in „10.000 B.C.“ (2008) von Roland Emmerich. Dagegen beschränkt sich Felix Randau wohlweislich auf ein Kammerspiel mit wenigen Akteuren, vertraut auf die eindrucksvolle physische Präsenz von Jürgen Vogel – und seine grandiose Kulisse.

 

Das Hochgebirge ist der eigentliche Hauptdarsteller: als ebenso monumentale wie lebensfeindliche Umgebung. Wie mühselig und riskant damaliges Dasein zwischen engen Tälern und schroffen Felshängen war, wird in jeder Einstellung deutlich: Jede unerwartete Begegnung birgt Gefahr, jeder Schritt auf unbekanntem Gelände kann tödlich enden. So wird der Ötzi-Avatar Kelab zu einem archetypisch ruhelosen Heros, als Vorläufer des babylonischen Gilgamesch oder Odysseus aus Ithaka – sage keiner mehr, deutsches Kino bewege sich nur auf ausgetretenen Pfaden und scheue vor kühnen Experimenten zurück!