
Unter den blutigen Katastrophen des 20. Jahrhunderts war die „Große Proletarische Kulturrevolution“ in China vielleicht die irrwitzigste. Der KP-Vorsitzende Mao Zedong (1893-1976) entfesselte sie im Frühjahr 1966; vorgeblich, um die Entstehung einer neuen Bürokraten-Kaste zu verhindern – de facto, um im Streit der Parteiflügel die Macht an sich zu reißen.
Info
Arbeiten in Geschichte - Zeitgenössische chinesische Fotografie und die Kulturrevolution
18.08.2017 - 07.01.2018
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
im Museum für Fotografie, Berlin
Katalog 33 €
Nicht ohne meine Mao-Bibel
Zugleich huldigten sie einem grenzenlosen, parareligiösen Personenkult. Maos Porträt war überall, nichts geschah ohne Berufung auf seine weisen Ideen. Die „Worte des Vorsitzenden“, auch „Mao-Bibel“ genannt, wurden mehr als eine Milliarde Mal gedruckt und verbreitet. Bis das Land im Chaos zu versinken drohte: 1967/8 wurde die Volksbefreiungsarmee in Marsch gesetzt, um Rotgardisten und rebellische Gruppen in ihrem Schlepptau zu entmachten. Die Auswirkungen hielten bis zu Maos Tod an: Rund zehn Jahre lang gab es keinen regulären Universitätsbetrieb.
Interview mit Kurator Ludger Derenthal + Impressionen der Ausstellung
Bereitschaft zur Brachial-Modernisierung
Bei diesen Wirren starben zwischen einer halben und eineinhalb Millionen Menschen; bis zu 30 Millionen wurden misshandelt, inhaftiert oder zur Umerziehung in die Provinz deportiert. Unzählige Artefakte wurden zerstört; in beispielloser Raserei vernichtete die älteste Nation der Welt einen Großteil ihres kulturellen Erbes. Dieser kollektive Amoklauf wird von der aktuellen KP-Führung als „Fehler in Theorie und Praxis“ bezeichnet – und ansonsten totgeschwiegen.
Dabei ist die Betrachtung der langfristigen Folgen unerlässlich, um das heutige China zu verstehen: Die heutige Elite in Politik und Wirtschaft wurde in und durch die Kulturrevolution sozialisiert. Erklärt diese Erfahrung die Bereitschaft zur brachialen Modernisierung, mit der ganze Altstädte abgerissen und durch monotone Betonkästen ersetzt werden? Oder den Umstand, dass nach einer eher kollektiven Regierung unter Jiang Zemin und Hu Jintao sich unter dem jetzigen Präsidenten Xi Jinping wieder eine Alleinherrschaft abzeichnet?
Unverständnis für Unverständliches
Insofern könnte diese Ausstellung über die Behandlung der Kulturrevolution in Chinas zeitgenössischer Fotografie relevanter kaum sein: als Schule für den westlichen Blick, um eine fremdartige Ikonographie und ihre gegenwärtige Bedeutung zu begreifen. Leider taugt die Schau dazu nur bedingt; sie setzt zu viele Aspekte ihres Gegenstands als bekannt voraus, anstatt sie dem Publikum geduldig näher zu bringen. Das mag daran liegen, dass zwei der drei Kuratoren Chinesen sind: Ihnen dürfte unverständlich sein, was hiesigen Betrachtern alles unverständlich ist.
Zwar benutzte der Maoismus Bildformeln des Totalitarismus, aber auf fernöstliche Weise. Kann man sich Propagandafotos von Hitler im Rhein oder Stalin in der Wolga vorstellen? Wohl kaum. Dagegen war eine Aufnahme von Mao, der am 16. Juli 1966 schwimmend den Jangtse-Fluss durchquerte, quasi der visuelle Auftakt zur Kulturrevolution: Sie demonstrierte seine Kraft, Ausdauer und Fitness. Nur dadurch wird ein gezeigtes Plakat verständlich, auf dem er im Bademantel (!) grüßend den Arm hebt; darunter steht sein selbst verfasstes Gedicht „Schwimmen“ in feinster Kalligraphie. Die Botschaft war klar: Mao ist sportlich und volkstümlich, gebildet und selbstbewusst – er kann einfach alles.
Massenhysterie im Sommer 1969
Ähnlich bedeutsame Akzente setzen Bilder von Büchern. Fotos von Parteigenossen, die mit „Mein Kampf“ oder Stalins schwer lesbaren Schriften wedeln, gibt es kaum. Anders in China: Stapel von „Mao-Bibeln“ wurden vor der Verteilung unters Volk abgelichtet; alle paradierenden Rotgardisten streckten sie dem „Großen Vorsitzenden“ entgegen. So bekräftigten sie seinen Anspruch, der wichtigste Marxismus-Theoretiker und gleichsam das „Siegel der Propheten“ zu sein. An solchen Spektakeln sollen insgesamt zwölf Millionen Menschen teilgenommen haben.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "China 8: Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr" – hervorragende Panorama-Schau in 8 Städten in NRW
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die 8 der Wege: Kunst in Beijing" – exzellente Überblicks-Schau über Gegenwartskunst in China in den Uferhallen, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "What a wonderful World" – zeitgenössische Fotografie aus China in der kunst.licht gallery, Berlin
und hier einen Beitrag über die Werkschau von "Wang Bing" – grandiose Retrospektive des bedeutendsten Dokumentarfilmers in China auf der documenta 14, Kassel
und hier eine Kritik des Films "The Chinese Lives of Uli Sigg" – Porträt des wichtigsten westlichen Sammlers der Gegenwartskunst aus China von Michael Schindhelm.
Wandzeitungen voller Markennamen
Dagegen wirken Arbeiten zu den Nachwirkungen der Kulturrevolution eher verhalten – anders als etwa „Soz-Art“ in Osteuropa, die den Bilderkosmos des Sowjetkommunismus ab den 1980er Jahren persiflierte. Unter Mao bürgerte sich ein, Kollektive in extremen Breitformaten abzulichten. Ohne dieses Wissen übersieht man die Pointe einer analogen Aufnahme von He Chongyue. Alle porträtierten Dorfbewohner sind alt; die Jüngeren haben den Ort verlassen, weil es keine Arbeit mehr gibt.
Auch die Serie von „Versammlungshallen“, die Shao Yinong und Mu Chen streng zentralperspektivisch fotografieren, wirkt auf den ersten Blick reizlos. Dabei fanden hier wichtige Ereignisse der Kulturrevolution statt, was die gegenwärtige Öde nicht ahnen lässt. Eine ebenso grelle wie einleuchtende Aktualisierung ihres Nachlasses gelingt dagegen Wang Qingsong: Er lässt Aktivisten eine riesige Halle mit Wandzeitungen pflastern – nur verkünden sie keine Agitationsparolen mehr, sondern internationale Markennamen.
Betonsockel statt Mao
Damit ist sein Beitrag für westliche Betrachter noch am ehesten zugänglich. Wie auch die Schnappschüsse von Zhang Kechun: Er hat 2012 eine Gruppe von Badenden im Jangtse aufgenommen, die ein überlebensgroßes Mao-Porträt mit sich führen. Neben diesen Nostalgikern hängt das Bild „Menschen fischen im Fluss“ – doch zwei Gestalten trudeln unbeholfen durchs Wasser, denn ein riesiger Betonsockel versperrt ihnen die Sicht. Ironischer kann man das ikonische „Mao als Schwimmer“-Foto von 1966 kaum persiflieren.