
Dieser Film war wohl unvermeidlich. Seit einigen Jahren dreht sich das Werk von Ai Weiwei vornehmlich um seine persönlichen Erfahrungen – und in gewisser Weise ist er selbst ein Flüchtling. Nach seiner dreimonatigen Inhaftierung 2011 in Beijing und anschließendem Hausarrest durfte er Ende 2015 nach Berlin ausreisen. Dort hat er eine Gastprofessur an der Universität der Künste und verfügt über ein 3000 Quadratmeter großes Atelier mit einer Schar von Assistenten.
Doch in jüngster Zeit fehlte ihm ein zündendes sujet. Spätestens seit der documenta 12 von 2007 war Ai der China-Regimekritiker vom Dienst; quasi als Andrej Sacharow des multimedialen Zeitalters. Wobei er als Weltstar des Kunstbetriebs eigentlich nur in Deutschland gilt; hiesige Galeristen und Museumsdirektoren haben ihn gezielt als solchen aufgebaut und vermarktet. Mit begrenzter Reichweite: Abgesehen von der spektakulären „Sunflower Seeds“-Installation 2010/1 in der Londoner Tate Modern fanden die meisten Ai-Ausstellungen im deutschsprachigen Raum statt.
In den Fußstapfen von Joseph Beuys
Da fragt man sich, warum Ai gerade hierzulande solches Ansehen genießt: ob die Deutschen für Großkünstler als selbsternannte moralische Instanzen besonders empfänglich sind? Oder ob es an Joseph Beuys‘ Vorarbeit liegt, der mit öffentlicher Dauerpräsenz und schwadronierendem Sendungsbewusstsein sein sprödes œuvre popularisierte? Mit dem Schamanen aus Düsseldorf verbindet Ai jedenfalls seine überschaubaren kreativen Fähigkeiten bei maximalem Geltungsanspruch. Man solle ihm nur einen Monat lang sämtliche Staatsmedien überlassen, forderte er 2014 in der Doku „The Fake Case“: Dann werde in China alles anders.
Offizieller Filmtrailer
Allzeit im Internet beobachtbar
Weil die KP-Führung sich darauf bislang nicht einlässt, greift Ai ein anderes Megathema auf. Allerdings ist es kein Heimspiel: Als er 2016 das Säulen-Portal des Berliner Konzerthauses mit Flüchtlings-Schutzwesten ummantelte und ein Auto als Spendenbüchse aufstellte, warfen ihm Kritiker Betroffenheitskitsch vor. Deutlich wurde, dass ihm sein USP – David gegen Goliath in Beijing – im Exil abhanden gekommen war: Andere machen originellere Freiluft-Skulpturen aus readymades.
Also liegt die Hinwendung zum Kino nahe; ohnehin ist Ai ein eifriger Produzent bewegter Bilder. Seit etlichen Jahren fotografiert und filmt er unablässig alles, was ihm vor die Linse seines smartphone kommt, und lädt es in Internet hoch. Solange er noch in China lebte, begründete er das als Schutzmaßnahme: Werde er permanent im Netz beobachtet, sei er vor Verfolgung durch den Staatsapparat sicher. Inzwischen drängt sich ein banalerer Grund auf: grenzenlose Eitelkeit.
Selfie-Regisseur als Hauptdarsteller
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung “Ai Weiwei – Evidence” – bislang größte Ausstellung des Künstlers im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Beitrag über den Film "Ai Weiwei – The Fake Case" – glorifizierende Doku über den Künstler im Hausarrest von Andreas Johnsen
und hier eine Besprechung der Dokumentation "Ai Weiwei - Never Sorry" – informative Doku über den Künstler von Alison Klayman
und hier einen Bericht über die Debatte "Ai Weiwei: art, dissidence and resistance" mit hochrangigen chinesischen Teilnehmern im August 2011 im Haus der Kunst, München
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Ai Weiwei in New York" mit Fotografien aus seinem US-Exil 1983 - 1993 im Martin-Gropius-Bau, Berlin
Der Regisseur als Hauptdarsteller – alle anderen sind Statisten. In sage und schreibe 22 Ländern wurde gedreht, 200 Helfer waren beteiligt, mehr als 1000 Stunden footage musste der arme cutter sichten. Ein gigantischer Aufwand, um 140 Minuten lang ähnliche Bilder leicht variiert aneinander zu reihen: Sie zeigen Hunderte, wenn nicht Tausende von Flüchtlingen, die irgendwo marschieren, warten oder campieren.
Nur Spendenkonto-Nummer fehlt
Manchmal dürfen sie ein paar triviale Sätze über erfahrenes Leid und ihre Suche nach einem besseren Leben sagen. Meist blicken sie nur stumm und traurig in die Kamera. Fehlt nur noch, dass auf der Leinwand die Spendenkonto-Nummer von Misereor erscheint.
Ai lässt anderes einblenden: irgendwelche undatierten Schlagzeilen aus der Weltpresse. Oder irgendwelche Eckdaten über Flüchtlinge weltweit – zusammenhanglos und unstrukturiert wie alles in diesem Film. Der hat weder eine nachvollziehbare Entwicklung noch Dramaturgie: nur einen wirren Bildersalat in HD-Qualität mit Elendspornographie in Hochglanz-Optik – Ai ist ein fan von malerischen Panoramaaufnahmen durch Dronen.
Vergebliche Liebesmüh
Wo immer er sie kriegen kann: Sein Film springt in bunter Reihe von Anlandungs-Aktionen in Lampedusa und Lesbos über Lager von Rohingyas in Bangladesh zu solchen von Somalis in Kenia und wieder zurück. Selbst in den Gazastreifen macht Ai einen Abstecher; alle sind für ihn irgendwie Flüchtlinge.
Wer in den letzten drei Jahren nie fern gesehen hat, den mag das beeindrucken. Ansonsten bietet jeder x-beliebige Leitartikel und jede TV-Reportage mehr als diese sinnfreie Materialschlacht. Aus ihr erfahren Interessierte nichts, was sie nicht längst wüssten – alle Übrigen werden sich kaum dafür interessieren. Wenn auch nur ein einziger Zuschauer nach dem Ansehen des Films seine Meinung über Flüchtlinge ändere, habe sich die Mühe gelohnt, ließ Ai bei seiner Deutschland-Premiere verlauten: Diese Hoffnung dürfte vergeblich sein.