Mehmet Kurtuluş

Clair Obscur

Chehnaz (Funda Eryigit) und Cem (Mehmet Kurtulus) wirken wie ein glückliches Paar. Foto: Real Fiction Filmverleih
(Kinostart: 7.12.) Hell versus Dunkel: Regisseurin Yeşim Ustaoğlu beobachtet das Liebes- und Eheleben zweier junger Frauen in der heutigen Türkei und lässt sie aufeinander treffen. Ohne zu werten – eine subtile Sozialstudie in erlesen elegischen Bildern.

Das eine Haus steht einzeln direkt am Meeresufer: ein kleines Hotel, modern und schlicht eingerichtet, mit malerischem Blick auf die Brandung. Hier hat sich die angehende Psychologin Chehnaz (Funda Eryiğit) während ihres Pflicht-Praktikums in einem Provinz-Krankenhaus eingemietet. An den Wochenenden fährt sie zu ihrem Partner Cem („Tatort“-Kommissar Mehmet Kurtuluş) – beide bewohnen ein elegant, fast schon mondän eingerichtetes Apartment in Istanbul.

 

Info

 

Clair Obscur

 

Regie: Yeşim Ustaoğlu,

105 Min., Türkei/ Polen/ Deutschland/ Frankreich 2016;

mit: Funda Eryiğit, Ecem Uzun, Mehmet Kurtuluş

 

Weitere Informationen

 

Das andere Haus ist eine Mietskaserne in der Kleinstadt, in der Chehnaz arbeitet. Hier haust die kaum volljährige Elmas (Ecem Uzun) in einer verwinkelten und engen, voll gestopften Wohnung mit ihrem Mann und ihrer fettleibigen Schwiegermutter. Da die Diabetikerin sich kaum bewegen kann, muss Elmas ihr alle paar Stunden eine Insulin-Spritze setzen oder ihre wund gelegene Haut einreiben. Ansonsten hat sie – abgesehen vom Haushalt und Einkäufen – wenig zu tun. Ihr einziges Vergnügen ist, heimlich auf dem Balkon zu rauchen.

 

Zwei Mal türkischer Frauen-Alltag

 

Willkommen in der heutigen Türkei: Mit wenigen, unspektakulären Bildern umreißt Regisseurin Yeşim Ustaoğlu die krassen Gegensätze in diesem Schwellenland. Dazu genügt ihr, beide Protagonistinnen hautnah durch ihren Alltag zu verfolgen. In ruhigen, sparsam mit stimmungsvollen Klängen unterlegten Einstellungen – der Film kommt völlig ohne hektische Handkamera oder aufdringliche Symbolik aus.

Offizieller Filmtrailer, OmU


 

Kollegen-Flirt + Ehe-Pflichten

 

Stattdessen erzählt Regisseurin Ustaoğlu konzentriert, wie Chehnaz und Elmas in nächster Nähe nebeneinander her agieren, ohne voneinander zu wissen – bis sich ihre Leben zufällig kreuzen. Die Psychologin beginnt an ihrem Glück mit Cem zu zweifeln, als sie ihn beim Ansehen von internet-Pornos beobachtet; bei langen Spaziergängen am Felsufer will sie sich Klarheit über ihre Gefühle verschaffen. Als ihr Klinik-Kollege Umut (Okan Yalabik) um sie wirbt, geht sie bereitwillig darauf ein.

 

Dagegen ist sich Elmas über ihr Elend völlig im Klaren. Als Minderjährige wurde sie mit gefälschten Papieren zwangsverheiratet; an ihrem neuen Wohnort fühlt sie sich fremd und kaum besser als eine Haussklavin. Allnächtlich erträgt sie weinend ihre ehelichen Pflichten mit zusammengebissenen Zähnen; ihr Leid kann sie keiner Seele anvertrauen.

 

Fremd- versus Selbstbestimmung

 

Bis eines Nachts ein Unglück geschieht. Gatte und Schwiegermutter schlafen schon, Elmas legt im Ofen Kohlen nach und begibt sich auf den Balkon. Doch ein Sturm drückt den Qualm zurück in den Schornstein – beide Mitbewohner sterben an einer Rauchvergiftung. Das Mädchen wird wegen Mordverdachts verhaftet und von der Polizei zur Untersuchung durch die Psychologin geschickt. Mit geduldigen Fragen entlockt Chehnaz ihr, was sich zugetragen hat.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Babamin Sesi - Die Stimme meines Vaters" - kurdisches Familiendrama von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan

 

und hier einen Bericht über den Film "Winterschlaf" – brillantes türkisches Intellektuellen-Drama von Nuri Bilge Ceylan, prämiert mit der Goldenen Palme 2014

 

und hier einen Beitrag über den Film "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan

 

Wobei Regisseurin Ustaoğlu am tatsächlichen Verlauf ebenso wenig interessiert ist wie an biographischen Einzelheiten. Ihr geht es um die Kontraste von Lebenswegen verschiedener Milieus. Als anatolisches Landkind ist Elmas vollkommen fremdbestimmt; allein tödliche höhere Gewalt eröffnet ihr vage Aussichten auf mögliche Besserung. Dagegen unterscheidet sich die Psychologin weder in Aussehen noch Habitus von gleichaltrigen Akademikerinnen in Westeuropa – obwohl die Regierung in Ankara einen islamisch sittsamen Lebensstil zu verordnen versucht.

 

Ein Hauch von Resignation

 

Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen führt der Film ganz unangestrengt vor; mit wie beiläufig gezeigten Details, deren Bedeutung sich erst in der Parallelführung erschließt. So wird sich Chehnaz über ihre Partnerwahl erst im Bett klar – bei einer der ausdrucksstärksten und schönsten Liebesszenen, die seit langem auf der Leinwand zu sehen waren. Auch das kann türkisches Kino sein.

 

Das alles geschieht, ohne zu werten oder Emanzipations-Rezepte anzubieten. Selbst die Männer werden nicht denunziert: weder der urban-weltläufige Cem noch der tumbe Prolet von Ehemann, der sich Elmas angeschafft hat wie ein Möbelstück. So umflort diese feinfühlig subtile Sozialstudie in erlesen elegischen Bildern ein Hauch von Resignation: Alles ist, wie es ist, und wird vermutlich so bleiben.