Berlin

Jeanne Mammen: Die Beobachterin – Retrospektive 1910-1975

Jeanne Mammen: Sie repräsentiert (Detail), um 1928, Privatbesitz, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Repro: © Mathias Schormann. Fotoquelle: Berlinische Galerie, Berlin
Chronistin von Bubikopf und Monokel: Kein Künstler hat die "Goldenen Zwanziger Jahre" so federleicht aufs Papier gebracht wie Jeanne Mammen. In der NS- und Nachkriegszeit änderte sie ihren Stil radikal – die Berlinische Galerie präsentiert erstmals ihr Gesamtwerk.

Man könnte sie eine grande dame der Neuen Sachlichkeit nennen. Doch dafür war die frankophile Jeanne Mammen, die 1890 in Berlin als Johanna Mammen zur Welt kam, viel zu bescheiden. Fotografien von ihr zeigen eine schmächtige Person in schlichter Kleidung, die meist bei leicht gesenktem Kopf von unten nach oben schaut – mit schüchternem, aber hellwachem Blick. So sah sie sich auch auf ihren wenigen Selbstporträts.

 

Info

 

Jeanne Mammen:
Die Beobachterin - Retrospektive 1910-1975

 

06.10.2017 - 15.01.2018

täglich außer dienstags

10 bis 18 Uhr

in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Berlin

 

Katalog 34,80 €

 

Weitere Informationen

 

„Ich habe immer gesagt: Ich möchte eine Mönchskutte haben und mit der ins Theater gehen“, betonte sie mit der ihr eigenen, schnoddrigen Ironie. Nicht auffallen wollen, aber überall Augenzeugin: Damit wurde Mammen zur bedeutendsten künstlerischen Chronistin der Weimarer Republik. An ihren damaligen Erfolg konnte sie später, obwohl sie fleißig weiter arbeitete, nicht mehr anknüpfen. Wirklich vergessen war sie aber nie: Etliche Ausstellungen zur Kunst der 1920er Jahre zeigten auch Bilder von ihr.

 

Erste Gesamtwerk-Schau

 

1997 richtete die Berlinische Galerie ihre erste posthume Retrospektive aus – allerdings konzentriert auf ihr Frühwerk. Daher bietet diese Neuauflage nach zwei Dekaden die wohl erste Gelegenheit, die enorme Bandbreite ihres Schaffens in seiner ganzen Fülle kennenzulernen: mit 170 Arbeiten aus sechs Jahrzehnten, davon 50 Gemälden.

Feature mit Statemens von Direktor Thomas Köhler, Kuratorin Annelie Lütgens + Impressionen der Ausstellung; © Berlinische Galerie


 

56 Jahre im Kurfürstendamm-Atelier

 

Als Kind zog Jeanne Mammen 1901 mit ihrer großbürgerlich liberalen Familie nach Paris; dort und in Brüssel erhielten sie und ihre ältere Schwester Mimi eine umfassende künstlerische Ausbildung. Bei Kriegsausbruch 1914 müssen die Mammens als feindliche Ausländer aus Frankreich fliehen; ihr Vermögen wird beschlagnahmt. Gewöhnt an französische Sprache und Lebensart, beherrscht die junge Jeanne kaum Deutsch, als sie mittellos nach Berlin zurückkehrt: Die Reichshauptstadt kommt ihr fürchterlich steif, muffig und rückständig vor.

 

Dennoch gelingt es den Schwestern bald, beruflich Fuß zu fassen: Beide liefern dem „Kunstgewerbeblatt“ ausgefeilte Zeichnungen in symbolistischer Manier. 1920 beziehen sie ein Wohnatelier mit zwei Zimmern am Kurfürstendamm 29 im Hinterhaus. Während Mimi in der NS-Zeit nach Teheran auswandert, wird Jeanne in diesen Räumen ihr weiteres Leben bleiben – 56 Jahre lang.

 

Alle Kudamm-Passanten zeichnen

 

Ihre Motive findet sie direkt vor der Haustür: Der Kudamm entwickelt sich rasch zur Ausgehmeile mit zahllosen Restaurants, Cafés, Variétés und Bars. Alle möglichen Gestalten strömen hier zusammen, und Jeanne hält sie mit spitzem Stift fest: piekfeine Erscheinungen in teurer Abendgarderobe ebenso wie zwielichtige Typen in schäbiger Aufmachung.

 

Ihr Stil ist unverwechselbar: Ob reich oder arm – auf ihren Bildern treten Damen wie Herren als Leute von Welt auf. Sie, ganz „Neue Frau“, trägt Bubikopf, keckes Hütchen und kurze Kleider; er gern smoking, Zylinder und Monokel. Die kühle Eleganz ihrer Silhouetten scheint einem Art-Déco-Werbekatalog entsprungen, doch die Gesichter passen nicht dazu: Augen sind halb oder ganz geschlossen, Lippen pikiert gespitzt, das Antlitz sieht gelangweilt oder resigniert aus. Die Protagonisten wenden sich meist voneinander ab; trotz drangvoller Enge scheinen sie oft isoliert und einsam.

 

Tucholsky lobt Mammen als Delikatesse

 

Mammen gelingt das Kunststück, sie zugleich mondän und müde, begehrenswert und blasiert, amüsierwütig und angeödet wirken zu lassen. Bei aller satirischen Schärfe schwingt stets auch Sympathie für die Porträtierten mit – das unterscheidet sie von den ätzenden Karikaturen eines George Grosz oder Otto Dix. Solche Grafiken werden in vielen populären Zeitschriften wie „Simplicissimus“ oder „Uhu“ abgedruckt: Ende des Jahrzehnts kann die Künstlerin gut davon leben.

 

Ihre Illustrationen für Magazine lobt Kurt Tucholsky 1929 begeistert: „Im Delikatessenladen, den uns Ihre Brotherren wöchentlich oder monatlich aufsperren, sind Sie so ziemlich die einzige Delikatesse.“ Zugleich taucht Mammen ins halbseidene Nachtleben ein, etwa Arbeiterkneipen im Wedding oder lesbische Lokale rund um den Nollendorfplatz. Mit Szenen des wilden Treibens bebildert sie Publikationen wie den „Führer durch das lasterhafte Berlin“ (1931) von Curt Moreck.

 

Polit-Kunst in der inneren Emigration

 

1933 ist damit Schluss. Die Blätter, für die Mammen tätig war, werden eingestellt oder auf NS-Kurs getrimmt; im Nu verliert sie ihre Einkommensquelle. Nun schlägt sie sich mit dem Verkauf antiquarischer Bücher durch; als Künstlerin arbeitet sie nur noch im Verborgenen. Wobei sie ihre Malweise völlig verändert: Von Picasso, dessen Monumentalbild „Guernica“ sie bei ihrem Besuch der Weltausstellung in Paris 1937 sehr beeindruckt, übernimmt sie dessen kubistisches Formenrepertoire.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Wien – Berlin: Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz" mit etlichen Werken der Neuen Sachlichkeit, u.a. von Jeanne Mammen, in Berlin + Wien

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Tanz auf dem Vulkan" über "Das Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste" im Ephraim-Palais, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Menschliches - Allzumenschliches - Die Neue Sachlichkeit" im Lenbachhaus, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Otto Dix: Der böse Blick" über den neusachlichen Künstler der 1920er Jahre in der Kunstsammlung NRW K20, Düsseldorf

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Hannah Höch: Revolutionärin der Kunst" über das Werk der Dadaistin nach 1945 in Mannheim + Mülheim a.d. Ruhr.

 

So entsteht in der Abgeschiedenheit ihres Ateliers politisch engagierte Kunst in der inneren Emigration: fragmentierte, zersplitterte Allegorien von Militärs und Gewaltherrschaft. Selbst einem scheinbar harmlosen „Mädchen mit Katze“ (1943) ist an seinen verbogenen Gliedern und düsteren Farben die Nöte der Zeit deutlich anzusehen.

 

Rückzug aus dem Kunstbetrieb

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelt sich ihre Kunst abermals: Vieldeutige Formen und fahle Töne schließen an die Strömungen von Informel und Art Brut an. Ein „Kirchenfenster“ (1955/9) erinnert mit seinem all over dripping gar an den Abstrakten Expressionismus von Jackson Pollock. Zudem modelliert Mammen Plastiken irgendwo zwischen Hans Arp und Henry Moore. Doch bald gerät sie zwischen die Fronten der ideologischen Ost-West-Debatte über figurative versus abstrakte Malerei – und zieht sich weitgehend aus dem Kunstbetrieb zurück.

 

Im Spätwerk probiert sie abermals Neues aus: einerseits körnige Leinwände mit rätselhaften Zeichen wie bei Willi Baumeister. Andererseits kleinteilig ornamentierte Rätselbilder, die sie wie zur gleichen Zeit Hannah Höch mit funkelnden Fundstücken dekoriert, etwa Spitze oder Stanniolpapier. Nicht als Flucht ins Kunstgewerbliche, sondern als sarkastischen Kommentar zur Gegenwart: „Photogene Monarchen“ von 1967 bezieht sich auf den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlewi und seiner Frau in Berlin; das löste die Studentenproteste aus, bei denen Benno Ohnesorg erschossen wurde.

 

Facettenreiches Jahrhundertwerk

 

Jeanne Mammen hat ein Jahrhundertwerk geschaffen; so facettenreich wie die Zeit, in der es entstand. Ihr Stilpluralismus mag ihrer Anerkennung zu Lebzeiten eher geschadet haben – heute erscheint es dadurch umso attraktiver. Auch wenn sie von ihrer „Gebrauchsgrafik“ der 1920er Jahre nach dem Krieg nicht mehr viel hielt: Ihre respektlose Beobachtungen von Bubiköpfen gab den „Goldenen Zwanzigern“ ein unverwechselbares Gesicht.