
Dieser Film ist einzigartig. Es gibt unzählige Dokumentar- und Spielfilme über Künstler und ihr Werk; allein das dramatische Leben von Vincent van Gogh (1853-1890) soll mehr als 100 Mal verfilmt worden sein. Es gibt Versuche, einzelne Gemälde in bewegte Bilder zu übertragen: So verfilmte der Pole Lech Majewski 2011 ein von Pieter Bruegel geschaffenes Bild eindrucksvoll als „Die Mühle und das Kreuz“. Und der Österreicher Gustav Deutsch verband Motive von Edward Hopper 2013 zum recht statischen Bilderbogen „Shirley – Visionen der Realität“.
Info
Loving Vincent
Regie: Dorota Kobiela + Hugh Welchman,
95 Min., Polen/ Großbritannien 2017;
mit: Douglas Booth, Chris O’Dowd, Jerome Flynn, Robert Gulaczyk
65.000 Ölgemälde-Fotos
Für „Loving Vincent“ agierten reale Schauspieler vor green screens oder in Kulissen, die Van Goghs Bildern glichen – mehr als 120 seiner Motive wurden ins Drehbuch integriert. Auf dieser Grundlage erstellten Maler fast 380 Ölgemälde mit seiner typischen Pinselführung. Sie wurden von „Gemälde-Animatoren“ Schritt für Schritt übermalt und abgelichtet, um die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Zwölf Bild-Fotografien ergaben jeweils eine Sekunde Film; der gesamte Spielfilm besteht aus 65.000 Aufnahmen von echten Ölgemälden.
Offizieller Filmtrailer
Posthume Briefzustellung
Diese irrwitzige Mühe sieht man dem Resultat nicht an: Flüssig und geschmeidig gleiten die Farben und Formen über die Leinwand, nie wirkt der Bilderstrom konstruiert oder gezwungen. Was auch an der betont unspektakulären Handlung liegt, die das auf Animationsfilme spezialisierte Regie-Paar Dorota Kobiela und Hugh Welchman dazu erdacht hat.
Beim Postmann Joseph Roulin (Chris O’Dowd), der mit Van Gogh befreundet war, taucht 1891 dessen letzter Brief auf, den der Maler vor seinem Ableben verfasst hat. Joseph schickt seinen Sohn Armand (Douglas Booth) mit dem Brief nach Paris, um ihn Vincents geliebtem Bruder Theo zu übergeben. Dieser starb jedoch ein halbes Jahr nach Vincent; vom Farbenhändler Père Tanguy erfährt Armand mehr über Vincents tragischen Lebenslauf und seine mysteriösen Todesumstände.
Todesfall-Rekonstruktion wie im Krimi
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Gauguin" - Biopic über Van Goghs Maler-Freund mit Vincent Cassel von Édouard Deluc
und hier eine Besprechung der Ausstellung "1912 – Mission Moderne: Die Jahrhundertschau des Sonderbundes" mit 14 Gemälden von Van Gogh im Wallraf-Richartz-Museum, Köln
und hier einen Beitrag über der Ausstellung "Monet, Gauguin, van Gogh ... Inspiration Japan" - hervorragende Ausstellung über Japonismus im Museum Folkwang, Essen
und hier einen Bericht über den Film "Die Mühle und das Kreuz" - eindrucksvolle Verfilmung eines Gemäldes von Pieter Brueghel durch Lech Majewski
und hier eine Kritik des Films "Shirley - Visionen der Realität: Der Maler Edward Hopper in 13 Bildern" – Verfilmung seiner Gemälde durch Gustav Deutsch.
Eine Todesfall-Rekonstruktion wie in klassischen Krimis, mit einem unbedarften Außenseiter als Detektiv: Das nutzen Kobiela und Welchman so elegant wie hintersinnig, um des Künstlers Bilder-Kosmos auszubreiten. Wogende, von Sonnenstrahlen durchglühte Weizenfelder; malerische Flussufer mit Barken und Stegen; Dorfhäuser mit üppig bepflanzten Gärten oder Wohnstuben voll grober Holzmöbel im Dämmerlicht – die Hauptfigur Armand bewegt sich durch die ländliche Belle Époque im Van Gogh-look. Das heißt: nicht durch einen originalgetreu ausstaffierten Historienfilm, sondern durch die Bilderwelt des Künstlers selbst.
Bester Animationsfilm 2017
Mit Van Goghs radikal subjektivem Blick: Auf seinen Gemälden suggerieren Tüpfelungen, auseinander strebende Strichbündel und Farbspiralen stets vibrierende Dynamik. Nun werden sie fürs Kino in Bewegung versetzt; dadurch entfalten sie eine unheimlich doppelbödige Atmosphäre, die seinen Bildern schon immer latent innewohnte. Dazu passt die zusehends vertrackte Spurensuche von Armand: Alle Perspektiven seiner Gesprächspartner sind persönlich und begrenzt; jede lässt Fragen offen.
Auch das Regisseurs-Duo beansprucht nicht, Van Goghs letzte Lebenstage definitiv aufzuklären; darauf kommt es ihm gar nicht an. Stattdessen zeigt es mit größtmöglicher Genauigkeit und schönstmöglichem Ergebnis, was das bedeutet: die Welt mit den Augen eines berühmten Malers zu erleben. Als liefe man durch das „Van Gogh Museum“ in Amsterdam – und seine Bilder an den Wänden würden plötzlich lebendig. Für diese traumhafte Leistung wurde „Loving Vincent“ völlig zurecht mit dem Europäischen Filmpreis als bester Animationsfilm 2017 ausgezeichnet.