Karlsruhe

Cézanne – Metamorphosen

Paul Cézanne: Liegender weiblicher Akt mit Birne (Leda II), 1887 , © Von der Heydt-Museum Wuppertal | Foto: Medienzentrum, Antje Zeis-Loi. Fotoquelle: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Alles hängt mit allem zusammen: Die Kunsthalle will nachweisen, dass Paul Cézanne alle Formen miteinander verknüpft und Genre-Grenzen aufgelöst hat. Ihre ehrgeizige These lässt sich nur teilweise belegen – was den Schauwert dieser Retrospektive nicht mindert.

Paul Cézanne (1839-1906) zählt zu den berühmtesten und am meisten bewunderten Malern des 19. Jahrhunderts. Neben Vincent van Gogh und Paul Gauguin gilt er als einer der wichtigsten Wegbereiter der modernen Malerei: indem er die Zentralperspektive als Ordnungsschema aufgab, Gegenstände auf ihre geometrischen Grundformen reduzierte und mit nebeneinander angeordneten Farbflächen Objekte und die Leerräume zwischen ihnen als gleichwertig behandelte.

 

Info

 

Cézanne - Metamorphosen

 

28.10.2017 - 11.02.2018

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr

donnerstags bis 21 Uur

in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Hans-Thoma-Straße 2-6, Karlsruhe

 

Katalog 35 €

 

Weitere Informationen

 

So emanzipierte er das Bild von seiner Abbildungsfunktion und trieb die Autonomie der Kunst voran, wie das kanonische Urteil der heutigen Kunstgeschichte lautet: Insbesondere die Kubisten knüpften an Cézanne an, als sie anfingen, Motive in lauter simultan dargestellte Einzelansichten aufzufächern. Damit nicht genug, behauptet die Karlsruher Kunsthalle. Sie will nachweisen, dass Cézanne auch die Grenzen zwischen herkömmlichen Genres wie Porträt, Landschaft und Stillleben auflöste – weil seine Arbeit ein unaufhörlicher Verwandlungsprozess gewesen sei. Malerei als Kunst der Metamorphosen.

 

Vokabular von Alchemisten

 

Diese kühne These wird so aufwändig wie eigenwillig in Szene gesetzt. Rund 100 Werke, darunter etwa ein Viertel von anderen Künstlern, sind weder nach Gattungen noch chronologisch angeordnet, sondern in zehn Räumen gemäß ebenso vieler Themen. Genauer: nach künstlerischen Verfahren und Ergebnissen – von „Auflösen“ über „Verwandeln“ und „Umkreisen“ bis zu „Mehrdeutigkeit“. Das klingt ein wenig nach dem Vokabular von Alchemisten, was sich auf den Ertrag der Ausstellung auswirkt.

Impressionen der Ausstellung


 

Jacke wird Berg, Tuch wird Schwan

 

Deren anschaulichstes Exponat begrüßt den Besucher; es „fasst die gesamte Idee der Ausstellung in einer Arbeit zusammen“, so Kurator Alexander Eiling. Auf einer aquarellierten Bleistiftzeichnung hat Cézanne 1890/2 eine „Jacke auf einem Stuhl“ beinahe monochrom festgehalten. Das Kleidungsstück liegt achtlos zerknautscht da; seine Falten machen nahezu unkenntlich, worum es sich handelt. Stattdessen meint man, eine Gesteins-Formation zu sehen: Ihr Umriss gleicht verblüffend der Montagne Saint-Victoire, die der Künstler etliche Male aus verschiedenen Perspektiven dargestellt hat.

 

Ähnlich einleuchtend ist die Analyse des Gemäldes „Liegender weiblicher Akt mit Birne (Leda II)“ von 1887; nicht zufällig wird fast jeder Pressebeitrag damit illustriert. Die unbekleidete Dame hat Cézanne – der zu verklemmt für lebende Aktmodelle war – aus einer Champagner-Werbung übernommen. Ein weißes Tuch bauscht sich mächtig auf; leicht kann man die Silhouette eines Schwanes hineinlesen, der in der antiken Mythologie Leda unsittlich behelligt. Zugleich sollen zwei Birnen in der linken oberen Ecke gegen die Schwerkraft beteuern, dass es sich bloß um ein Tischtuch handelt. Hier bleibt alles in der Schwebe – und lässt damit viel Raum für Assoziationen und Spekulationen.

 

Michelangelos Soldaten + Rubens‘ Göttin

 

Wie einzigartig Cézannes Malweise in seiner Epoche war, lässt sich am besten erkennen, wenn er Bilder von Kollegen kopierte. Etwa den Impressionisten Armand Guillaumin; er malte um 1874 „Am Quai d’Austerlitz in Paris“ – eine freundlich konventionelle Alltags-Szene mit einem Hafenkran, der Kohlenbarken entlädt, und locker hingetupften Wolken. Cézanne behält Komposition und Farbwerte bei – doch seine Version wirkt massig und düster. Kurator Eiling nennt das „Verfestigen“.

 

So überzeugend geraten aber nicht alle Etappen des Parcours‘. Da wird Cézannes Lithographie „Badende am Ufer“ (1896/8) mit Michelangelos „Badenden Soldaten“ in Verbindung gebracht – obwohl Personal und Szenerie beider Bilder wenig miteinander zu tun haben. Da soll eine nackte Kriegsgöttin bei Rubens Pate für alle Frauenfiguren mit erhobenen Armen bei Cézanne gestanden haben – obwohl diese Pose zu den Standards der neuzeitlichen Formensprache zählt.

 

„Bildfindungen + Formereignisse beflügeln sich“

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Meine Zeit mit Cézanne" – Künstlerbiographie über Paul Cézanne + Émile Zola von Danièle Thompson

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Magie des Augenblicks: Van Gogh, Cézanne, Bonnard, Vallotton, Matisse" – eindrucksvolle Werkschau der Nabis-Künstler mit Gemälden von Cézanne in Halle/ Saale + Stuttgart

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Monet, Gauguin, van Gogh … Inspiration Japan" – hervorragende Ausstellung über Japonismus in der Malerei mit Arbeiten von Cézanne im Museum Folkwang, Essen.

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "1912 – Mission Moderne" – gelungene Rekonstruktion der Jahrhundertschau des Sonderbundes mit Werken von Cézanne im Wallraf-Richartz-Museum, Köln.

 

Solch zwanghaftes Aufspüren von Korrespondenzen wird ziemlich makaber, sobald maskenhafte Porträts seiner Gattin Hortense mit Bildern von Totenschädeln verglichen werden. Sie sehen angeblich höchst individuell aus – als habe der Interpret die Leichname zu Lebzeiten gekannt. Noch abwegiger wirkt das Bemühen, in jeder Tischdecke auf Cézannes zahllosen Äpfel-Stillleben einen Gebirgskamm und in jedem Horizont auf Landschaftsbildern einen Verweis auf möblierte Interieurs ausmachen zu wollen.

 

Formen in und außer Haus ähneln und entsprechen einander; das wusste man schon vor Cézanne. Er hat solche Analogien mit seiner spezifisch flächigen Malweise sicher akzentuiert, aber keineswegs als erster dargestellt oder gar eine Revolution der Wahrnehmung ausgelöst: als „ein Wandern und Kreisen der Motive von Werk zu Werk, ein sich wechselseitiges Beflügeln von Bildfindungen und Formereignissen, eine Dynamik zwischen den Bildern, die den Betrachter am kreativen Prozess des Künstlers teilhaben lässt“, wie Kunsthallen-Direktorin Pia Müller-Tamm schwärmt.

 

Geheimwissen über Kunst-Welt

 

Solch wolkiges Raunen kennt die europäische Geistesgeschichte aus Gnostik und Mystik. Ihre Anhänger sehen überall sphärische Spiegelungen und subkutane Beziehungen am Werk: Alles hängt mit allem zusammen. Woraus jedoch wenig folgt: Die Dinge bleiben, wo und was sie sind, ob sie nun irgendwie untergründig miteinander verbunden sind oder nicht.

 

Aber angebliches Geheimwissen über das, was die Kunst-Welt im Innersten zusammenhält, beeindruckt oft Nichteingeweihte sehr. Derart verstiegene Höhenflüge muss man nicht mitmachen, um die Ausstellung zu genießen: So viele Cézanne-Werke an einem Ort waren in Deutschland seit 15 Jahren nicht mehr zu sehen.