Martina (Catrin Striebeck) ist Ärztin und arbeitet für eine deutsche Hilfsorganisation in einem Flüchtlingslager im kurdischen Teil des Iraks. Sie lebt seit langem in der Region, spricht fließend Kurdisch und Arabisch. Blauäugigen Idealismus kann man ihr nicht vorwerfen, allenfalls eine zu große Verstrickung in die regionalen Konflikte.
Info
Das Milan Protokoll
Regie: Peter Ott,
100 Min., Deutschland 2017;
mit: Catrin Striebeck, Christoph Bach, Samy Abdel Fattah
Nah an der staubigen Realität
Schnell wird deutlich, dass Regisseur und Drehbuchautor Peter Ott eine Menge über die unübersichtlichen Konfliktlinien im Mittleren Osten weiß. In seinem Dokumentarfilm „Die Präsenz Gottes in einer falsch eingerichteten Gegenwart“ untersuchte er 2014 den Einfluss der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah auf die urbane Kultur in Beirut. Im Entführungsdrama „Das Milan Protokoll“, das fiktional, aber nah an der staubigen Realität inszeniert ist, nimmt Ott nun die Gemengelage von religiösen und ethnischen Interessen im – mittlerweile ehemaligen – Territorium des „Islamischen Staats“ (IS) ins Visier.
Offizieller Filmtrailer
Akteure kochen eigene Süppchen
Mit seinem Hintergrundwissen überfordert der Regisseur bisweilen das Publikum. Ott setzt einige Vorkenntnisse voraus, um die Interessen der fast beiläufig eingeführten Protagonisten aus diversen Geheimdiensten oder der Strippenzieher in den Stammesmilizen einordnen zu können. So wirkt der Film eher wie eine detailreiche, etwas überfrachtete Reportage als wie ein packender Thriller.
Es gibt einfach ein paar Baustellen zu viel. Neben den Kidnappern kochen noch andere Akteure mit der Geiselnahme ihr Süppchen. Martinas Entführer betonen wiederholt, dass sie nicht zum IS gehören – was allerdings, wie der Zuschauer bald ahnt, nur halb stimmt: Sie haben den totalitären Islamisten einst Treue geschworen, wollen aber, da deren Machtbereich schwindet, nun wieder die Seiten wechseln.
Alles dreht sich um deutsche Rakete
Vor allem interessieren sich die Geiselnehmer für Martinas Verbindungen zur PKK. Und für die titelgebende Panzerfaust „MILAN“: Diese Panzerabwehrrakete wurde 2014 im Auftrag der Bundesregierung an die Kurden im Nordirak geliefert, um sie im Kampf gegen den IS zu unterstützen – eine in Berlin seinerzeit durchaus umstrittene Strategie. Die Kidnapper vermuten, dass Martina eine solche Waffe auf syrisches Gebiet schmuggeln wollte. Auf jeden Fall aber versuchen die Entführer, ihre Geiselnahme vor dem militärischen Emir des IS geheim zu halten, bevor der auf die Idee kommen könnte, Martina als Faustpfand für seine politischen Zwecke einzusetzen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Himmel wird warten" über vom "Islamischen Staat" rekrutierte Jugendliche in Frankreich von Marie-Castille Mention-Schaar
und hier eine Besprechung des Films "Timbuktu" - brillant lakonisches Drama über islamistischen Terror in Nordafrika von Abderrahmane Sissako
und hier einen Beitrag über den Film "Das Wetter in geschlossenen Räumen" - sarkastisches Kammerspiel über Expat-Exzesse im Nahen Osten von Isabelle Stever mit Maria Furtwängler
und hier einen Bericht über den Film "Bakur - North" - Doku über die kurdische PKK-Guerilla von Çayan Demirel + Ertuğrul Mavioğlu.
Seelische Implosion zündet nicht
Positiv fällt auf, dass die Schauplätze – gedreht wurde im kurdischen Nordirak und in Köln – wenig klischeehaft in Szene gesetzt sind: Die Bildwelten wirken kaum abgenutzt und doch realistisch. Dagegen überzeugt der zweite, kammerspielartige Handlungsstrang weniger: Martinas allmähliche seelische Implosion wirkt fast wie an den eigentlichen Plot drangeklebt – als sei deren einzige Funktion, den Zuschauer in diesen facettenreichen, aber spröden Film emotional hineinzuziehen.
Das klappt nicht recht: Martinas inneres Drama lässt den Betrachter seltsam unbeteiligt. In immer neuen Verstecken, in die sie gebracht wird, vermischt sich die Realität mit ihren Albträume – auch weil unklar bleibt, wer unter ihren Entführern ihr eingeschworener Feind ist oder doch zum potenziellen Komplizen werden könnte. Allein Martinas ambivalentes Verhältnis zum jungen Bewacher Ismail wirkt stimmig.
Abgeschobener als Kontakt zur Heimat
Er ist in Bielefeld aufgewachsen, bevor er zurück in den Irak abgeschoben wurde. So verkörpert Ismail für Martina ein Stück Heimat, auch wenn seine tatsächliche Rolle in den lokalen Konflikten undurchsichtig bleibt. Als Politthriller ist dieser Film also nur eingeschränkt gelungen – doch er bietet teilweise erhellende Einblicke in die komplexe Problemlage dieser von Krieg gebeutelten Weltgegend.