Gary Oldman

Die dunkelste Stunde

Premier Winston Churchill (Gary Oldman) arbeitet an einem Plan, um die britischen Truppen aus Dünkirchen zu evakuieren. Fotoquelle: Universal Pictures International Germany
(Kinostart: 18.1.) Mit Whisky und Zigarre gegen Nazis: Regisseur Joe Wright porträtiert Winston Churchill beim Amtsantritt 1940. Sein Hedonismus entsprach seinem Widerstandswillen gegen das NS-Regime – spannender Historienfilm, aber ohne Gegenwartsbezug.

Es ist kein Jahr her, dass Winston Churchill (1874-1965) schon einmal auf der Kino-Leinwand mit Bangen über den Ärmelkanal schaute. Damals spielte Brian Cox den britischen Premier am Vorabend der alliierten Invasion in der Normandie im Juni 1944. Diesmal begegnen wir dem legendären Staatsmann mit dem Bowlerhut an einem anderen Kreuzweg seines Lebens: Im Mai 1940 hat sich das Dritte Reich das tschechische Sudetenland, Österreich und Polen einverleibt, Belgien und die Niederlande überfallen; nun rückt die Wehrmacht auf Paris vor.

 

Info

 

Die dunkelste Stunde

 

Regie: Joe Wright,

126 Min., Großbritannien 2017;

mit: Gary Oldman, Kristin Scott Thomas, Lily James, Ben Mendelsohn

 

Website zum Film

 

Im belgischen Dünkirchen ist der überwiegende Teil des britischen Berufsheeres praktisch eingekesselt. In dieser dunklen Stunde ist das Parlament entschlossen, den bereits todkranken Premierminister Neville Chamberlain (Ronald Pickup) abzusetzen. Seine appeasement-Politik der Nachgiebigkeit gegenüber Hitler hatte sich als fataler Fehler erwiesen. Nun braucht England einen Premierminister, der energisch den Krieg gegen Nazi-Deutschland führen kann. 

 

Keine Lust auf Krieg + Churchill

 

Allerdings hat niemand im Oberhaus so richtig Lust auf diesen Krieg, und erst recht hat niemand wirklich Lust auf Winston Churchill (Gary Oldman), der kaum politische oder militärische Erfolge vorweisen kann: weder König George VI. (Ben Mendelsohn) noch der einflussreiche Außenminister Lord Halifax, der versucht, den Konflikt mit Deutschland noch irgendwie hinauszuzögern. Doch es gibt keine personelle Alternative; so wird der nuschelnde alte Herr, der den Tag gern mit einem guten Tropfen beginnt, vom Monarchen mit der Regierungsbildung beauftragt.

Offizieller Filmtrailer


 

Blut, Schweiß und Tränen

 

Churchill ist schon einen Schritt weiter: Er will England auf einen Krieg mit ungewissem Ausgang einschwören und verspricht in seiner berühmten Antrittsrede „Blut, Schweiß und Tränen“. Und er will die britischen Truppen in Dünkirchen zurück auf die britischen Inseln evakuieren. Dabei bietet sich ein spannender Blick hinter die Kulissen der großen historischen Kriegsanstrengung.

 

War der Film „Churchill“ mit Brian Cox in der Hauptrolle noch kammerspielartiges Historien-Kino, geht Regisseur Joe Wright hier in die Breite. Er hat sich für diese Aufgabe mit Verfilmungen von Literatur-Klassikern wie „Stolz und Vorurteil“ (2005) und „Anna Karenina“ empfohlen. Auch hier dominieren historische Drehorte, üppige Dekors, donnernder Soundtrack und Sentenzen aus der Sammlung von Churchills geflügelten Worten. Nur bei den Kampfszenen ist Wright ökonomisch: Anstatt aufwändige Schlachtszenen zu inszenieren, lässt er Kameradrohnen aufsteigen, um Bombenkrater und Angriffsziele ins Bild zu setzen. 

 

„Sieg“ ähnelt „Schieb’s Dir hinten rein!“

 

Dazwischen zoomt der Film immer wieder in Churchills Privatleben, in fiktive Dialoge mit seiner Gattin Clementine (Kristin Scott Thomas) und, wegen der Pointen, oft aufs „WC“ (die Initialen W.C.!). Und natürlich in Gespräche mit einer neuen Sekretärin, die offenbar zum Standard-Personal solcher Filme gehört. Sie hat einen lieben Menschen im Felde und weiht ihren Boss in die Geheimnisse des Lebens  einfacher Leute ein.

 

Der will nicht nur wissen, wie sich das „V“, das Handzeichen für „Victory“, also „Sieg“, von der proletarischen Geste für das wenig schmeichelhafte „Up your ass!“ (etwa: „Schieb’s Dir hinten rein!“) unterscheidet. Ihn interessiert auch, wie die Engländer ticken, die er regiert; dafür fährt er zum ersten Mal in seinem Leben mit der U-Bahn, um mit den Fahrgästen zu sprechen. Die Diskussion mit dem einfachen Volk erinnert an das beliebte Stilmittel des sozialistischen Regisseurs Ken Loach, dialektische Widersprüche und Lösungswege aufzuzeigen. Hier jedoch dient es allein der Legitimation der Herrschaft; dazu begibt sich Regisseur Joe Wright schamlos ins Reich der historischen Fantasie.

 

Verantwortlich für Gallipolli-Debakel

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Churchill" – eindrucksvolles Biopic über Winston Churchill von Jonathan Teplitzky

 

und hier einen Bericht über den Film „The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben“ – brillantes Biopic über das Informatik-Genie Alan Turing im Zweiten Weltkrieg von Morten Tyldum mit Benedict Cumberbatch

 

und hier ein Beitrag über den Film "Diplomatie" – virtuoses Kammerspiel über die Rettung von Paris im Zweiten Weltkrieg von Volker Schlöndorff

 

und hier eine Besprechung des Films "Anna Karenina" – mit Keira Knightley von Joe Wright nach dem Klassiker von Leo Tolstoi.

 

Wegen seiner herausragenden Leistung in jener dunkelsten Stunde bleibt jedoch im Dunkeln, was darüber hinaus eigentlich so toll sein soll an diesem Winston Churchill. Der Spross einer britischen Adelsfamilie setzte in fünf Kolonialkriegen um 1900 die chauvinistische Politik seiner Königin so blutig durch wie jeder andere Offizier; außerdem verheizte er als Marineminister 1915 in der Weltkriegs-Schlacht von Gallipolli Hunderttausende von Soldaten der Entente. 

 

Es wäre interessant, zu erfahren, was genau ihn eigentlich so sehr gegen Hitler einnahm. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, sich ein Motiv auszumalen: Standesdünkel, ideologischer Widerspruch, vererbter Hass auf die Hunnen oder reiner Neid? Wohl von allem ein bisschen.

Ein Oscar für die Nasenspitze

 

Hauptdarsteller Gary Oldman ist dabei kein Vorwurf zu machen. Aus einer Latex-Landschaft von Doppelkinn und Dackelfalten im Gesicht ragt gerade noch seine Nasenspitze heraus; dafür dürfte der Maske ein Oscar sicher sein. Oldman gibt dieser Figur großen Nuancen-Reichtum.

 

Er versinkt völlig in dem vor sich hin murmelnden, grantelnden, ständig Alkohol pichelnden, manchmal absichtlich halb unzurechnungsfähig wirkenden, aber zu jeder Zeit blitzgescheiten Staatsmann, den der Film präsentieren möchte. Allerdings hat er in dieser Zeitkapsel aus Mythen, Nachruhm und Verklärung in Tagen von Brexit und anderen Zerfallserscheinungen in der EU kaum Gegenwärtiges zu sagen.