
Ein kalter Morgen im Spätherbst: Die Sonne geht gerade über dem Horizont auf. Sie taucht Berge, Bäume, Gräser und eine ältere Frau in ein helles Licht. Zwei schwarz-weiße Hunde tollen um sie herum. Das Gesicht der Frau leuchtet. Sie ist eins mit sich und der Natur. Dieser elegische Moment steht am Anfang von „Die Spur“. Doch der innere Frieden von Janina Duszejko (Agnieszka Mandat), einer kräftigen Frau mit langen grauen Haaren, wird jäh zerstört.
Info
Die Spur (Pokot)
Regie: Agnieszka Holland,
128 Min., Polen/ Deutschland/ Tschechische Republik 2017;
mit: Agnieszka Mandat, Wiktor Zborowski, Miroslav Krobot
Tiere sind wichtiger als Menschen
Die Polizei der kleinen Stadt an der polnisch-tschechischen Grenze stempelt die ehemalige Brückenbau-Ingenieurin, die das Schicksal jedes Menschen anhand seines Geburts-Horoskops deutet, als Verrückte ab. Ein junger Polizist fragt sie in einer Szene etwas ratlos, warum Frauen in ihrem Alter Tiere oft wichtiger sind als Menschen. Die Antwort bleibt aus.
Offizieller Filmtrailer
Gute Menschen, schlechte Menschen
Tatsächlich gibt es in der Welt der charismatischen Außenseiterin, die den englischen Dichter und Naturmystiker William Blake (1757-1827) verehrt, nur eindeutig gute oder böse Menschen. Jene schwarz-weißen Charaktere sind der Schwachpunkt des wunderschön fotografierten Filmes. Abgrundtief verdorben ist die patriarchale Mehrheitsgesellschaft, die die Jäger repräsentieren. Auch der Priester gehört dazu; er verkörpert die Bigotterie.
Hintergrund
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Kommentar zur polnischen Politik
Mit „Die Spur“ kehrt Agnieszka Holland, die mit „Hitlerjunge Salomon“ (1990) bekannt wurde, in ihre Heimat und zum Spielfilm zurück; zuvor hat sie zwei Folgen der Netflix-Serie „House of Cards“ inszeniert. Ihr neuer Film, eine Adaption des Romans „Der Gesang der Fledermäuse“ (2011) von Olga Tokarczuk – ein wagemutiger Mix aus Krimi, Märchen und Naturplädoyer – lässt sich als Kommentar zu den politischen Verhältnisse in Polen auffassen. Ein Land, in dem seit Jahren restaurative Politiker regieren, die die „guten alten Zeiten“ propagieren und die Demokratie aushöhlen. Was sich auch in einem rücksichtsloseren Umgang mit der Natur bemerkbar macht: Die Abholzung des Bialowieza-Urwaldes in Ostpolen wurde erst gestoppt, als die EU Strafmaßnahmen androhte.
Die fragwürdige Moral des Filmes irritiert jedoch. Die Hauptfigur stellt das Recht der Tiere im Zweifelsfall höher als das der Menschen. Lange hat man im Kino, das für ältere Frauen ohnehin nur wenige interessante Rollen bereit hält, keine so widersprüchliche Frauenfigur gesehen. Duszejko ist eine liebevolle Aushilfs-Lehrerin, die den Kindern des Städtchens Englisch beibringt, eine opferbereite Freundin, sogar eine Liebende – und gleichzeitig eine rigorose Fanatikerin.
Geniale Hauptdarstellerin
Dass man der Figur all diese Facetten abnimmt und ihr über zwei Stunden hinweg folgen mag, liegt am fantastischen Spiel von Agnieszka Mandat; sie hält den Film trotz seiner gelegentlichen Unausgegorenheit zusammen. Mit Blick auf ihre Leistung ist der Silberne Bär auf der Berlinale 2017 für „neue Perspektiven in der Filmkunst“ durchaus gerechtfertigt.