Amat Escalante

The Untamed (La región salvaje)

Alejandra (Ruth Ramos) wartet auf die Begegnung mit der Kreatur. Foto: © Copyright 2017, Forgotten Film Entertainment
(Kinostart: 11.1.) Sex aus dem Weltall: Ein Meteorit bringt entfesselte Lust nach Mexiko. Diese bizarre Prämisse benutzt Regisseur Amat Escalante für das subtile Porträt einer Kleinbürger-Familie in der Provinz – ein verblüffend stimmiger Mix diverser Film-Genres.

Life from outer space: Der Einschlag eines kosmischen Himmelskörpers in der mexikanischen Provinz verändert alles. Er bringt eine Kreatur auf die Erde, deren Wesen ungezähmte sexuelle Lust ist. Wer mit ihr in Berührung kommt, wird aus allem heraus gerissen, erlebt absolutes Glück – oder wird vernichtet.

 

Info

 

The Untamed
(La región salvaje)

 

Regie: Amat Escalante,

100 Min., Mexiko/ Dänemark/ Frankreich 2016;

mit: Simone Bucio, Ruth Ramos, Eden Villavicencio

 

Website zum Film

 

Jenseits von Schockmomenten und Provokation durch Tentakel-Pornographie will Amat Escalante in seinem vierten Spielfilm neue Wege finden, um zu zeigen, was eigentlich unvorstellbar oder zumindest mit herkömmlichen Mitteln kaum darstellbar ist: das radikal Andere einer befreiten menschlichen Natur.

 

Gewalt-Eruptionen wie nebenbei

 

Der in Barcelona geborene Mexikaner Escalante ist als Filmregisseur Autodidakt. Er war von Anfang an ein Festspiel-Liebling; schon sein Debütfilm „Sangre“ (2005) wurde in Cannes vorgeführt. Das dürfte vor allem an seinem naturalistisch anmutenden Erzählstil liegen: In sorgfältig komponierten Bildern beobachtet er unaufgeregt die Entwicklung seiner Protagonisten. Die sind allerdings oft gesellschaftlichen Härten und einer Abstumpfung ausgesetzt, die sich in plötzlichen Eruptionen von Gewalt entladen. Das geschieht meist wie nebenbei – und bleibt gerade deshalb umso länger im Gedächtnis.

Offizieller Filmtrailer, OmU


 

In Venedig für beste Regie prämiert

 

Die Wucht seines Kinos hat ihm bereits mehrere Auszeichnungen eingebracht. So erhielt er 2013 in Cannes den Preis für die beste Regie für sein bislang wohl eindrucksvollstes Werk: „Heli“ erzählt, wie ein Fabrikarbeiter in die Exzesse des mexikanischen Drogenkriegs verstrickt wird. „The Untamed“, im spanischen Original „La région salvaje“ („Die wilde Gegend“) betitelt, erhielt in Venedig 2016 in derselben Kategorie den Silbernen Löwen.

 

Bei diesem Film ging Escalante anders vor als bisher: Laien-Darsteller ersetzte er durch „Leute, die tatsächlich an Schauspielerei interessiert waren“, wie er sagt – da er die „rohe Realität“ seiner früheren Filme „etwas leid“ gewesen sei. Stattdessen bringt er nun Kino-Versatzstücke zusammen die – außer ein paar versprengten Extrem-Autorenfilmern – kaum jemand miteinander verbinden würde.

 

Ultimative Lust in der Wald-Hütte

 

Eine Hauptfigur ist die berufstätige Hausfrau und Mutter Alejandra (Ruth Ramos), die mit ihrem Mann Angel (Jesús Meza) zwei Söhne großzieht. Die Familie lebt in einer Kleinstadt: Ihren meist freudlosen Alltag prägen Heuchelei, ultrakonservative Werte und machismo. Insbesondere Angel stellt beständig Homophobie zur Schau, womit er seine eigene intime Beziehung zu Alejandras Bruder Fabian (Eden Villavicencio) zu überspielen hofft.

 

Fabian lernt die mysteriöse Veronica (Simone Bucio) kennen; dadurch geraten zunächst sein und bald auch Alejandras Leben und Verständnis von Liebe, Sex und Begehren völlig durcheinander. Denn Veronica eröffnet ihnen den Zugang zu einer Welt außerhalb ihres beschränkten Daseins: Sie bringt beide zu einer Hütte im Wald. Dort – eingebettet in großartige Naturaufnahmen und schwebende Kamerafahrten – begegnen sie der Kreatur aus dem Weltall, die sowohl hingebungsvolle Lust wie heilloses Verderben bescheren kann.

 

Konstellation ähnlich wie in „Teorema“

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Heli" – eindringliches Drogenkriegs-Drama aus Mexiko von Amat Escalante; prämiert für die beste Regie in Cannes 2013

 

und hier einen Bericht über den Film "The Strange Colour of Your Body’s Tears" – labyrinthischer Erotik-Thriller in italienischer Giallo-Tradition von Hélène Cattet + Bruno Forzani

 

und hier einen Beitrag über den Film "Teorema – Geometrie der Liebe" – Experimental-Drama über erotische Befreiung durch einen Erlöser von Pier Paolo Pasolini 1968.

 

Die Geschwister empfinden und verkraften die Begegnung mit der puren Sexualität des Außerirdischen sehr unterschiedlich. Nichtsdestoweniger wird ihr gesamtes bisheriges soziales Umfeld hinweggefegt; das erinnert an Pier Paolo Pasolinis brillante Parabel „Teorema – Geometrie der Liebe“ (1968).

 

Darin wird eine italienische Familie gleichfalls durch einen rätselhaften Neuankömmling mit Erotik von ihrer Gefühlskälte erlöst – und zahlt dafür einen hohen Preis. Auch in „The Untamed“ liegen Befreiung von Unterdrückung und Tod dicht beieinander; realistische Elemente prallen ungebremst auf solche des exploitation– und fantasy-Kinos.

 

Symbol für freudianisches Es

 

Das gleitet aber nie ins Lächerliche ab; Regisseur Escalante montiert Sozialdrama und genre-Zitate souverän zu einem stimmigen Ganzen. Dabei steht ihm ein erstklassiges ensemble zur Verfügung; vor allem die Hauptdarstellerinnen Simone Bucio und Ruth Ramos verleihen ihren Figuren viel Profil. Ebenso überzeugend ist die exzellente Kameraarbeit von Manuel Alberto Claro – und die computeranimierte Kreatur bei ihren wenigen kurzen Auftritten.

 

Damit gelingt es Escalante, seine bisherigen Ansatz zu erweitern, ohne mit ihm zu brechen: Die staubtrockene Gewalt der Vorgängerfilme reichert er mit grotesken Anleihen bei science fiction und body horror an, was verblüffend gut zusammenpasst. Seine symbolhafte Beschwörung nicht zu bändigender Triebe im Sinne des freudianischen „Es“ erscheint als viel versprechende Suche nach neuen Wegen aus gesellschaftlichen Verkrustungen.