Tyler Hubby

Tony Conrad – Completely in the Present

Der junge Tony Conrad spielt Geige. Foto: Edition Salzgeber
(Kinostart: 11.1.) Provokation als Prinzip: Der Komponist und Künstler Tony Conrad wollte alle etablierten Kunstformen sprengen – als Miterfinder der Drone-Musik schuf er eine neue. Die Doku von Regisseur Tyler Hubby erinnert an den anarchistischen Avantgardisten.

Ein weißhaariger Mann steht mitten auf einer Straßenkreuzung in New York; er bewegt seine Arme, als würde er dirigieren. „OK, jetzt bitte von links, ja, toll“, murmelt er: „Und jetzt von rechts, und nun bitte von beiden Seiten.“ Nach etlichen Pkw fährt ein Laster vorbei. „Wow, toller Bass, danke“, sagt der Mann und freut sich über die Gruppe von Kindern, die den Zebrastreifen überquert: ″Ja, genau, macht mal ein paar Kindergeräusche, das klingt gut“. 

 

Info

 

Tony Conrad - Completely in the Present

 

Regie: Tyler Hubby,

96 Min., USA 2016;

mit: John Cale, Tony Conrad, David Grubbs

 

Website zum Film

 

Was auch eine slapstick-Szene über einen verwirrten Greis sein könnte, ist eine Kostprobe vom Wirken eines der bedeutendsten avantgarde-Komponisten des 20. Jahrhunderts. Dass er zugleich zu den am wenig bekanntesten zählte, liegt wohl auch an solchen merkwürdigen Auftritten. Der US-Amerikaner Tony Conrad (1940-2016) war stets ein Anarchist und Querdenker, der sich gegen etablierte Kunstformen und jegliche Autorität stellte.

 

Verkehrsgeräusche als Musik

 

Hinter der obskuren Dirigier-Szene steckt wesentlich mehr als nur ein Witz; das macht der Dokumentarfilm von Tyler Hubby deutlich. Tony Conrad wollte nicht nur die moderne Kunst von ihrem Zwang zur weihevollen Ernsthaftigkeit befreien, sondern auch Konzept und Praxis der westlichen Musik und ihrer Komposition zerstören. Verkehrsgeräusche als Musik und Fahrzeuge als ihre Instrumente zu hören, ist nur eine Frage der Perspektive.

Offizieller Filmtrailer


 

Wo „Velvet Underground“ gegründet wurde

 

Diese Perspektive immer und jederzeit zu verschieben, zu verzerren und infrage zu stellen, war stets ein Leitmotiv Conrads; dabei tobte er sich mit unermüdlichem multitasking nicht nur als Musiker, sondern auch als Filmemacher, Dozent und Schriftsteller aus. Jene Rastlosigkeit übersetzt Regisseur Hubby in passend fragmentierte Filmbilder: durch sprunghafte Wechsel zwischen Archiv-Material und Doku-Aufnahmen, mit Conrad als Hauptfigur und seinen künstlerischen Wegbegleitern.

 

So beginnt der Film mit einem aktuellen Bild der Wohnung in der Lower East Side von New York, in die Conrad 1962 einzog. In dieser Bruchbude ernährte er sich vorwiegend von Hühnerherzen – weil sie so billig waren. Dort entstand nicht nur sein erster Film „The Flicker“ (1965) oder „Flaming Creatures“ (1963) seines Freundes Jack Smith. In diesen Räumen wurde auch 1964 „Velvet Underground“ gegründet; Conrad war ein musikalischer Wegbereiter der später weltberühmten psychedelic rock band um Lou Reed und John Cale.

 

Erfinder der „Drone“-Musik

Nach seinem Mathematik-Studium begann Conrad in New York, auf seiner Violine mit John Cale, dem minimal music-Komponisten La Monte Young und anderen zu musizieren. Als „Theatre of Eternal Music“ entwickelten sie gemeinsam einen völlig neuen sound. „Drone“-Musik besteht aus sehr lange anhaltenen Tönen; anfangs klingt sie vermeintlich monoton, bis das Gehör beginnt, viele Detail wie etwa die Obertöne des jeweiligen Tons wahrzunehmen. So wird bestenfalls ein hypnotischer Zustand erreicht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Blank City" - Doku über die Kunst- + Musik-Szene im New York der späten 1970er Jahre von Céline Danhier

 

und hier eine Besprechung des Films "Imagine waking up tomorrow and all music has disappeared" - originelles Porträt des radikalen Querdenkers Bill Drummond von Stephan Schwietert

 

und hier einen Beitrag über den Film "Sound of Noise – Die Musik-Terroristen" - amüsant absurde Musik-Groteske von Ola Simonsson + Johannes Stjärne Nilsson.

 

Damit unterwanderte dieses ensemble das etablierte Tonsystem, das auf Pythagoras (570-510 v.Chr.) zurückgeht. Dessen Prinzip, die Abstände musikalischer Töne durch einfache Zahlenverhältnisse zu beschreiben, prägt bis heute die westliche Musik von Klassik bis Pop. Wenig später wandte sich Conrad dem Filmemachen zu. „The Flicker“ ist ein rund 30-minütiger Experimentalfilm, der nur aus stroboskopartigen Lichteffekten besteht. Bei Vorführungen war das Publikum entweder begeistert oder schlug verstört die Hände vor das Gesicht.

 

Etwas redundante Doku

 

Solche Provokationen waren der Motor für Conrads Schaffen; dem blieb er noch Jahrzehnte später als Professor am „Media Study“-Institut der Universität von Buffalo im US-Bundesstaat New York treu. Eine amüsante Szene im Film zeigt, wie Conrad in einem Uni-Seminar unter dem Gelächter der Studierenden Pyrotechnik zündet. Bei aller Lust an lauten Knalleffekten agierte Conrad jedoch stets im Hintergrund.

 

Erst durch die Veröffentlichung von 35 Jahre alten Aufnahmen des „Theatre of Eternal Music“ im Jahr 2000 wurde Conrad endlich einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Daher ist auch Tyler Hubbys empathischer, aufgrund seiner Materialfülle streckenweise redundanter Film ein fehlendes Puzzleteil der Musikgeschichte, dessen Titel nicht passender sein könnte –ist Tony Conrad doch selbst bis ins hohe Alter immer im Jetzt verankert geblieben.