68. Berlinale

Behinderten-Sex im Bären-Portfolio

Goldener Bär 2018 für Adina Pintilie: Touch Me Not. Fotoquelle: Berlinale.de
Die Berlinale-Jury schockiert mit dem Goldenen Bären für "Touch me not", die potentiell besten Wettbewerbsfilme laufen in Nebenreihen – alles wie gehabt. Dennoch zeichnen sich erste Konturen für ein Festival nach dem Ende des endlosen Kosslick-Regimes ab.

Was für ein Schlag in den Solarplexus, wie ihn auch eine Film-Protagonistin über sich ergehen lassen muss: „Touch me not“ aus Rumänien, spätabends am vorletzten Wettbewerbstag gezeigt, gewann den Goldenen Bären! Damit hatte keiner gerechnet. Dem Debütfilm von Adina Pintilie fehlt absolut alles, was großes Kino ausmacht – außer einem Berlinale-typischen Thema.

 

Info

 

68. Berlinale

 

15. – 25.02.2018
in diversen Spielstätten, Berlin

 

Website des Festivals

 

Im Stil eines Laborversuchs in klinisch reiner und weißer Umgebung beobachtet der Film seine Figuren beim Überwinden körperlicher Hemmungen. Die 50-jährige, etwas verhärmte Laura schreckt vor jeder Berührung zurück; das will sie mithilfe von Callboy, transsexueller Prostituierter und Körpertherapeuten ändern. Tudor verlor als Kind sämtliche Haare, was ihn zum Außenseiter stempelte; nun nimmt er an einem Workshop teil, bei dem Normalos körperlich und geistig Behinderte anfassen. Dort schwärmt Christian, der an Muskelatrophie leidet, von seinem abwechslungsreichen Liebesleben mit seiner gesunden Partnerin.

 

Radio-Feature mit Standbildern

 

All das zeigt Regisseurin Pintilie in langen, statischen Einstellungen und langatmigen Interviews: Es geht um Sensibilität, Selbstakzeptanz, Ausagieren von Emotionen und derlei mehr. Nichts daran ist falsch, aber alles wirkt wie ein Radio-Feature mit Standbildern. In den einzigen Spielszenen schickt die Regisseurin Tudor und Christian in einen Swinger-Club: wie häufig in solchen Sexualkunde-Lehrfilmen ein Utopia der Sinnesfreuden, in dem alle Akteure wortlos rundum beglückt werden, sobald sie ihre Fetisch-Montur anlegen. Schön wär’s.

Offizieller Trailer des Siegerfilms "Touch me not" von Adina Pintilie


 

Oswalt Kolle war besser

 

Fraglos greift Pintilie mutig ein existentielles Problem auf, das kaum behandelt wird: gestörte Körperwahrnehmung und erotischer Analphabetismus durch Virtualisierung, Reizüberflutung und allgegenwärtige Ersatzbefriedigungen wie Internet-Pornographie. Aber sie fasst es in die denkbar drögeste Form: die einer staubtrockenen Pseudo-Doku voller Redundanzen, Leerlauf und unmotivierten Manierismen. Da waren die Aufklärungsfilme, die Oswalt Kolle 1968/72 drehte, deutlich attraktiver und informativer.

 

Dass sich die Berlinale-Jury dennoch für „Touch me not“ entschieden hat, liegt auf der Linie der letzten Jahre: Weder die Siegerfilme „Taxi Teheran“ (2015) von Jafar Panahi noch „Seefeuer“ (2016) von Gianfranco Rosi wiesen nennenswerte cineastische Qualitäten auf. Doch Zensur gegen Kreative und Flüchtlingsströme sind drängende Gegenwarts-Probleme – und Live-Sex mit Behinderten hatte das Filmfestival bislang noch nicht im Preisträger-Portfolio.

 

Silberne Bären gegen Warschau

 

Spielfilme, die diesen Namen verdienen, mussten sich mit Silbernen Bären begnügen. Der „Große Preis der Jury“ ging an Berlinale-Dauergast Małgorzata Szumowska für „Twarz“ („Visage“): Ihr Porträt eines Heavy-Metal-Freaks in der polnischen Provinz, der sich nach einer unfallbedingten Gesichts-Transplantation mit der katholischen Kirche anlegt, ist nach dem Vorjahres-Bären für „Pokot“ von Agnieszka Holland der zweite preisgekrönte Seitenhieb gegen die nationalkonservative PiS-Regierung im Nachbarland. So macht man progressive Kultur-Außenpolitik.

 

Den Preis für die beste Regie erhielt Exzentriker Wes Anderson für seinen Animationsfilm „Isle of Dogs“, der das Festival eröffnete: gewohnt verspieltes und detailverliebt inszeniertes Augenpulver, das ab Mai gewiss sein Publikum finden wird. Dagegen ist noch unklar, ob „Museo“ von Alonso Ruizpalacios trotz eines Bären für das beste Drehbuch hierzulande ins Kino kommt: Die turbulente Tragikomödie mit Gael García Bernal über zwei Spätstudenten, die Mexikos Nationalmuseum 1985 ausraubten, war vielen Kritikern zu lebensprall. Saftige Flüche und Koksen mit Stripperinnen passen nicht in deutsche Förderrichtlinien.

 

Trostpreis für Sowjet-Zeitgemälde

 

Politisch korrekteres Kino aus Lateinamerika bot hingegen „Las Herederas“ („Die Erbinnen“) von Regisseur Marcelo Martinessi aus Paraguay: Für sein Doppelporträt zweier Oberschichts-Damen, die nach dem geruhsamen Verzehr ihres Vermögens zurück ins aktive Leben finden, gab es den Alfred-Bauer-Preis „für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet“. Ihm wurde obendrein der FIPRESCI-Kritikerpreis zugesprochen, und Ana Brun bekam den Bären für die beste Darstellerin.

 

Ihr französischer Kollege Anthony Bajon wurde für seine Rolle eines Ex-Junkies, der sich in „La Prière“ von Cédric Kahn der Religion zuwendet, als bester Darsteller ausgezeichnet. Eher als Trostpreis muss der Bär für Elena Okopnaya gelten, den die Russin für „herausragende künstlerische Leistungen“ bei Kostümen und Ausstattung in „Dovlatov“ erhielt. Das Biopic von Alexey German jr. über einen mit Publikationsverbot gestraften Dichter fand als stimmiges Zeitgemälde der Sowjetunion in den 1970er Jahren großen Anklang und war für die Hauptpreise gehandelt worden.

 

Exilanten, Kidnapping + Flüchtlinge bald im Kino

 

Auch die übrigen Kritiker-Favoriten gingen leer aus, darunter zwei der vier deutschen Wettbewerbs-Beiträge: „Transit“ von Christian Petzold, eine Adaption von Anna Seghers‘ Exilanten-Roman (1944) im heutigen Marseille, und „In den Gängen“ von Thomas Stuber, einer liebevollen Kleine-Leute-Studie im Großmarkt. Beide Filme kommen aber demnächst regulär ins Kino, wie andere Highlights des Festivalprogramms. Etwa „7 Tage in Entebbe“ mit Daniel Brühl: ein schnörkelloser Politthriller über eine Flugzeugentführung 1976 durch Linksterroristen, gedreht von José Padilha, dem Berlinale-Sieger 2008 mit „Tropa de Elite“.

 

Oder „Styx“ von Regisseur Wolfgang Fischer: Auf hoher See lässt er eine Einhandseglerin auf ein überfülltes Flüchtlings-Boot treffen. Das allseits gelobte Drama in der „Panorama“-Sektion wurde von drei unabhängigen Jurys ausgezeichnet. Der „Panorama“-Publikumspreis wurde „Profile“ von Timur Bekmambetov zuerkannt, dem man sofort einen deutschen Verleih wünscht. Der kasachische Regisseur wurde 2004 in Russland mit dem Fantasy-Blockbuster „Wächter der Nacht“ berühmt; später drehte er mit mäßigem Erfolg in Hollywood, darunter ein Ben-Hur-Remake.

 

Dschihad-Drama nur auf PC-Monitor

 

In „Profile“ erkundet Bekmambetov so fremdes wie gefährliches Terrain. Eine britische Jungjournalistin gibt sich als islamische Konvertitin aus, bändelt über Facebook mit einem IS-Kommandeur an und gibt vor, sie wolle zu ihm nach Syrien reisen. Der gesamte Film spielt sich nur auf ihrem PC-Bildschirm ab; er besteht ausschließlich aus Video-Chats, Emails, Postings, wildem Herumklicken – und wird dabei zum atemberaubend spannenden Politthriller.

 

Filme wie „Styx“ oder „Profile“ erfüllen alle Anforderungen an Berlinale-Wettbewerbsfilme: hochaktuelle Themen, originelle Herangehensweise und Macher, die ihr Handwerk verstehen. Warum sie in Nebenreihen abgeschoben werden, weiß nur die Berlinale-Leitung – die ist allerdings im Umbruch, so dass ihre Entscheidungen ein Hauch von fin de règne umweht.

 

Erfolgloser Branchen-Aufstand

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Festival-Bilanz der 67. Berlinale 2017: "Expansionskurs in die Sackgasse"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 66. Berlinale 2016:  "Wegen Überfüllung geschlossen"

 

und hier eine Festival-Bilanz der 65. Berlinale 2015: "Jahres-Hauptversammlung der Berlinale AG"

 

Der seit 17 Jahren amtierende Direktor Dieter Kosslick muss im Mai 2019 abtreten, klebt aber an seinem Sessel. Dagegen probten 80 deutsche Regisseure im November den Aufstand: In einer Erklärung forderten sie von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) eine international besetzte Findungskommission, um einen Nachfolger zu finden, der das Festival „programmatisch erneuern und entschlacken“ könne. Wünschenswert sei auch eine Trennung von künstlerischer Leitung und Geschäftsführung wie in Cannes und Venedig.

 

Das Wünschen der Branche half nicht: In der dreiköpfigen Findungskommission sitzen neben Grütters seit Anfang Dezember nur die Deutschen Björn Böhning (SPD) als Berlin-Vertreter und Mariette Rissenbeek aus der Kulturveranstaltungs-GmbH des Bundes. Doch auf der Ebene der Einzel-Sektionen hat der Wechsel bereits begonnen. Nach einem Vierteljahrhundert als „Panorama“-Chef übergab Wieland Speck im August seinen Job an ein dreiköpfiges Team aus Paz Lázaro, Michael Stütz und Andreas Struck.

 

Nach-Kosslick-Ära beginnt 2020

 

Das Trio arbeitet schon seit langem im „Panorama“, doch dessen zaghafte Neuausrichtung ist unübersehbar: In der diesjährigen Reihe liefen deutlich weniger dilettantische Amateur-Produktionen zu queeren Themen als in der Vergangenheit. Nun muss sich noch jemand finden, der Christoph Terhechte nach 21 Jahren als Leiter des „Internationalen Forums des jungen Films“ ablöst: Dann könnte 2020 endlich die Nach-Kosslick-Ära ohne schale Witze, erratische Programmgestaltung und wohlfeile Gutmenschen-Preisvergabe beginnen.