Fredi M. Murer

Höhenfeuer

Tochter Belli (Johanna Lier) und ihr Vater (Rolf Illig). Fotoquelle: Filmmuseum Düsseldorf
Antike Tragödie unter Alpengipfeln: 1985 verlegte Regisseur Fredi M. Murer ein Inzest-Drama auf einen Hochgebirgs-Einödhof. Sein Meisterwerk wurde mehrmals zum besten Schweizer Film aller Zeiten gewählt – zu sehen im Filmmuseum Düsseldorf am 27. März.

In vielerlei Hinsicht ist „Höhenfeuer“ ein herausragender Meilenstein der Kinogeschichte in der Schweiz. Dieses Werk von Fredi M. Murer, der insgesamt 25 Filme in 52 Jahren drehte, wurde wiederholt zum besten Schweizer Film aller Zeiten gewählt. Doch er ist zugleich ein universeller Heimatfilm, der nicht nur in der Innerschweiz, sondern in vielen Berggegenden der Welt spielen könnte. Das hat auch der Regisseur stets aufs Neue betont: Diese intime Geschichte einer Familie im Hochgebirge reicht über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus.

 

Info

 

Höhenfeuer

 

Regie: Fredi M. Murer,

118 Min., Schweiz 1985;

mit: Thomas Nock, Johanna Lier, Dorothea Moritz, Rolf Illig

 

Weitere Informationen

 

Vorführung im Filmmuseum Düsseldorf

 

In jedem Fall ist der Film weit entfernt von einer Verherrlichung eines vermeintlichen Alpen-Idylls. Im Schweizer Kanton Uri, hoch oben in einem Bergtal, leben Vater, Mutter, Sohn und Tochter auf einem Bauernhof zusammen. Die nächsten Nachbarn sind die Großeltern. Um mit ihnen Blickkontakt aufzunehmen, ist ein Fernglas nötig. Der Lebensradius der Akteure ist klein, ihr Horizont jedoch keinesfalls.

 

Im Winter kommt hier keiner raus

 

Trotzdem lebt die Bauernfamilie in einer Welt für sich. Ihr Wohnort ist vor allem im Winter eine Insel, die niemand verlassen kann, ob tot oder lebendig. Für den Bestand des Hofes sind die Kinder als helfende Hände überlebenswichtig. Die enge Verbindung zwischen Bruder und Schwester löst in der Abgeschiedenheit einen Tabubruch aus, der das vermeintliche Familienglück zerbrechen lässt.

Offizieller Filmtrailer


 

Geschwister-Nähe + Eltern-Distanz

 

Der Bub (Thomas Nock) ist taubstumm und pubertär rebellisch gestimmt. Seine Schwester Belli (Johanna Lier) hegt für ihren Bruder viel Zuneigung, bringt ihm Lesen und Schreiben bei und ist seine wichtigste Bezugsperson. Die Eltern lassen diese Nähe oftmals vermissen; diese distanzierte Haltung belastet ihr Verhältnis zu ihrem pubertierenden Sohn immer stärker.

 

Fredi M. Murer hat diesen Film in seinem eigenen Heimatkanton Uri gedreht; das zeigt sich maßgeblich an der atmosphärischen Vielfalt der Bilder und Stimmungen. Offensichtlich kennt der Regisseur die Landschaft und Bewohner dieser Region sehr genau. Die vier Charaktere werden sehr deutlich als Individuen heraus gearbeitet: voller Gegensätze und Widersprüche in ihrer je eigenen Entwicklung.

 

Allgegenwärtige Enge der Bergwelt

 

In den Beziehungen der Protagonisten untereinander entsteht eine stetig wachsende Spannung, die sich in einer Katastrophe entlädt: Der Vater zürnt  über den Inzest seiner Kinder und die folgende Schwangerschaft von Belli. Beim Kampf kommt es zum Unfall: Der Vater stirbt von der Hand des Buben, obwohl er eigentlich die Kinder töten wollte. Die Mutter erliegt einem Herzanfall. Die Geschwister stehen elternlos da – aber ohne Reue, Schuld oder Scham.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Verdingbub" - Bergbauern-Drama von Markus Imboden über Kinder als Arbeits-Sklaven in der Schweiz bis 1950

 

und hier eine Besprechung des Films "Winterdieb" von Ursula Meier über elternlose Kinder in den Schweizer Alpen, Gewinner des Silbernen Bären 2012

 

und hier einen Beitrag über den Film "Tabu– Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" von Christoph Stark  über die inzestuöse Liebe des expressionistischen Dichters Georg Trakl zu seiner Schwester mit Lars Eidinger.

 

Die Kamerabilder von Pio Corradi sind dem Zwiespalt von spektakulären Ereignissen und dem kargen Leben der Figuren angepasst. Natürliches Licht bei Außenaufnahmen und künstliches Licht in Innenräumen schaffen hohe Authentizität und Klarheit, wobei diese Stimmung auch von einer gewissen Distanziertheit gekennzeichnet ist. Darin spiegelt sich die Ausweglosigkeit der Situation, auch bestärkt durch langsame Bewegungen der Kamera. Die Enge der Bergwelt ist omnipräsent. Die Kamera verlässt nie den Hof aus der Perspektive der Protagonisten. Es gibt keinen konkreten Blick ins Tal oder über die Gipfel.

 

Score aus Geräusche-Klangfarben

 

Eine andere wichtige Komponente für Stimmung und Atmosphäre des Films sind die Kompositionen von Mario Baretta: Durch ihre Zurückhaltung verhindern sie jedes Abdriften ins Melodramatische und entwickeln sich im Grunde aus den Klangfarben von Geräuschen heraus – zusammengesetzt aus Windharfe, Meermuschel, Klarinette und Singstimme. Damit versuchte Baretta auch, die Gehörlosigkeit des Buben musikalisch zu vermitteln; die Tonspur solle die Erfahrungswelt des Jungen ausdrücken, so die Vorgabe von Regisseur Murer.

 

So fügen sich alle Elemente der Inszenierung zu einem außergewöhnlichen und bis ins Detail stimmigen Film. Dessen Essenz und Qualität liegt letztlich in der Universalität, auf die Murer großen Wert legte: „Diese Geschichte könnte sich zwischen Island und Japan überall ereignen.“ Ihre Schilderung bleibt wertfrei und ist nicht von Moral unterlegt.

 

Ein Gastbeitrag von Thomas Ochs, Filmmuseum Düsseldorf