Frankfurt am Main

A Tale of Two Worlds: Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit dem MMK

Lygia Pape: Divisor (Detail), 2010 © Projeto Lygia Pape, Courtesy Projeto Lygia Pape and Hauser & Wirth. Fotoquelle: MMK 1, Frankfurt am Main
Die Idee ist gut, doch das Museum noch nicht bereit: Das MMK will nicht nur Lateinamerikas Nachkriegsmoderne ausbreiten, sondern auch in Bezug zur gesamten übrigen Westkunst setzen. Damit übernimmt es sich – so viel gibt der hauseigene Fundus nicht her.

Deutsche Museen sollen eurozentrische Scheuklappen ablegen und weltläufiger werden – das fordert und fördert die Kulturstiftung des Bundes mit ihrem Programm „Museum Global“. Dem folgt das MMK als Pionier: „Erstmals hat ein europäisches Museum seine Sammlung einer Betrachtung durch Kuratorinnen und Kuratoren lateinamerikanischer Kunst geöffnet.“ Für eine der größten Ausstellungen seit seiner Eröffnung 1991 mit rund 500 Werken von mehr als 100 Künstlern; sie füllen in 16 Abschnitten auf drei Etagen das gesamte Haus.

 

Info

 

A Tale of Two Worlds: Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK

 

25.11.2017 - 15.04.2018

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

mittwochs bis 20 Uhr

im MMK 1, Museum für Moderne Kunst, Domstraße 10, Frankfurt am Main

 

Katalog 55 €

 

Weitere Informationen

 

Das wirft Fragen auf, schon zum Titel: Welche „Geschichte zweier Welten“ soll erzählt werden – die ihrer Eigenständigkeit, ihrer ein- oder wechselseitigen Beeinflussung? Was bedeutet „experimentelle Kunst“ – gab es in der Nachkriegsmoderne überhaupt eine andere? Was wird damit ausgeschlossen? Süffige Salon- oder Kaufhaus-Kunst ist sowieso nie im MMK zu sehen. Und welcher „Dialog“ soll entstehen: der von zwei paritätisch besetzten Seiten – oder breitet eine ihre Themen und Positionen aus, und die andere dient nur als Kontrastfolie?

 

In Charakter + Ergebnis diffus

 

Eindeutig beantwortet werden diese Fragen in der Ausstellung nicht – beziehungsweise: alle paar Meter anders. So bleiben ihr Charakter und Ergebnis diffus. Als Überblicks-Schau über ein halbes Jahrhundert Kunst in Lateinamerika ist sie zu einseitig und lückenhaft; als Einführung in deren visuelle Qualitäten zu karg und kopflastig, und als Vergleich der Kunst-Szenen auf zwei Kontinenten zu unsystematisch.

Impressionen der Ausstellung


 

Zerstörung im Interkontinental-Vergleich

 

Angefangen mit den großzügig ausgebreiteten Werken von Lucio Fontana im Erdgeschoss. Da der Italo-Argentinier zeitlebens zwischen beiden Kontinenten pendelte, personifiziert er quasi das Anliegen dieser Schau – aber seine Loch- und Schnittbilder könnten hermetischer kaum sein; sie hätten überall entstehen können. Ebenso isoliert steht die Assemblage „Boîte“ von Marcel Duchamp herum, der 1918/19 ein Jahr in Buenos Aires verbrachte und in Südamerika lebhaft rezipiert wurde.

 

Doch der anschließende „Neoconcretismo“ in Brasilien war von der „konkreten Kunst“ des Schweizers Max Bill inspiriert; er bleibt völlig unerwähnt. Der erste Abschnitt, der tatsächlich Analoges bietet und Vergleiche erlaubt, ist der zu „Strategien der Zerstörung“: Anfang der 1960er Jahre schwelgten beidseits des Atlantiks Künstler in Destruktion. So lud 1963 die Argentinierin Marta Minujin in Paris zur öffentlichen Verbrennung ihrer Werke ein. Im selben Jahr sprengte der Franzose Arman einen weißen Sportwagen: Ruine als Readymade.

 

Mehr ist immer besser

 

Wie flüchtig der Charme solcher Aktionskunst ist, führt Lygia Papes Arbeit „Divisor“ vor. Die Brasilianerin stülpte 1967 ein gigantisches Bettlaken mit Löchern über eine Schar Kinder aus der Favela: eine simple und geniale Methode, um gleichzeitig Getrennt- und Verbundenheit zu veranschaulichen – und für die Knirpse ein wilder Spaß. 2010 wurde die Performance im Kunstmuseum von Rio wiederholt – als zahmes re-enactment, dessen Zauber verflogen war.

 

Es versteht sich, dass engagierte Kunst verblasst, wenn die Missstände verschwinden, gegen die sie protestiert: etwa die Militärdiktaturen der 1950/80er Jahre in Lateinamerika. Dem begegnen die Kuratoren mit mehr vom Gleichen: Wandfüllende Bilder- und Foto-Reihen, Riesen-Installationen und Irrgärten aus Video-Projektionen beeindrucken nicht nur durch schiere Masse, sondern verschleiern auch, wie wenig die Exponate miteinander korrespondieren. Da malte etwa der Peruaner Jesús Ruíz Durand 1969/75 schreiend bunte Klassenkampf-Plakate für Arbeiter und Bauern: Agitprop in psychedelischem Look war seinerzeit weltweit en vogue.

 

Gute Stuben in Nord- + Südamerika

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dark Mirror – Lateinamerikanische Kunst seit 1968" – grandiose Überblicks-Schau im Kunstmueum Wolfsburg

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Hélio Oiticica: Das große Labyrinth + Brasiliana" – erste deutsche Retrospektive für den "Andy Warhol Brasiliens" im Museum für Moderne Kunst + dortige Installations-Kunst seit 1960 in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main

 

und hier einen Besprechung der Ausstellung "Avante Brasil: Junge Kunst aus Brasilien" im KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Realidad y Utopia" mit zeitgenössischer Kunst aus Argentinien in der Akademie der Künste, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Verlangen nach Form – O desejo da Forma" mit Neoconcretismo + zeitgenössischer Kunst aus Brasilien in der Akademie der Künste, Berlin.

 

Doch das MMK hängt monochrome Siebdrucke von Andy Warhol und Bastelarbeiten des Deutschen Thomas Bayrle daneben – ist ja alles irgendwie kritische Pop Art. So wird nur selten erkennbar, ob und wie Künstler „aus zwei Welten“ verwandte Themen bearbeiteten. Der Argentinier León Ferrari zeichnete 1976/82 Autoverkehr als sinnlos kreisendes, alptraumhaftes Labyrinth; seine Bilder ähneln verblüffend motivgleichen Collagen von Bayrle.

 

Nebenan zeigen zwei komplett eingerichtete Schau-Räume verschiedene Wohn-Geschmäcker – samt ihrer Welt-Bilder. 1969 richtete Claes Oldenburg ein typisches US-Schlafzimmer ein: Alles ist aufdringlich und protzig gestaltet, besteht aber aus preiswerten Ersatzstoffen. Elf Jahre später breitete Beatriz Gonzáles eine bürgerliche gute Stube in Kolumbien aus: Alles sieht gediegen und 30 Jahre älter aus – die Möbel und Vorhänge sind mit Silhouetten von Akteuren der korrupten Elite dekoriert.

 

MMK-Sammlung ist zu schmal

 

Noch seltener kooperierten europäische und südamerikanische Künstler direkt miteinander. Wie der Argentinier Nicolás Garcia Uriburu: Er färbte gemeinsam mit Josef Beuys 1981 den Rhein grün ein, im Folgejahr pflanzten sie ein paar von Beuys‘ „7000 Eichen“ auf der documenta 7. Kein Wunder: Der Umweltschutz-Gedanke ist per definitionem global.

 

Was der Kunstbetrieb zwar von sich behauptet, aber noch längst nicht ist. Nicht alle können alles virtuos miteinander verknüpfen: Diese Schau krankt daran, dass die MMK-Sammlung für etliche Latino-Exponate offenbar keine passenden Euro-Gegenstücke parat hält. Da würden ausgesuchte Leihgaben anderer Häuser weiter helfen.

 

Besser erstmal vorstellen

 

Oder eine kompakte und durchdachte Vorstellung allein von zeitgenössischer Kunst aus Lateinamerika, wie sie dem Kunstmuseum Wolfsburg 2015/6 mit der Ausstellung „Dark Mirror“ mit Werken seit 1968 grandios gelang – oder dem MMK selbst zwei Jahre zuvor mit seiner opulenten Retrospektive von Hélio Oiticica, dem „Andy Warhol Brasiliens“.