Andrej Swjaginzew

Loveless

Das Smartphone ist immer dabei: Zhenya (Maryana Spivak) und ihr neuer Liebhaber Anton (Andris Keiss). Foto: © Alpenrepublik
(Kinostart: 15.3.) Keine Liebe, nirgends: "Leviathan"-Regisseur Andrej Swjaginzew rechnet mit Egozentrik und Gefühlskälte im heutigen Russland ab. Sein Fallbeispiel einer zerrütteten Ehe samt verschwundenem Kind gerät plakativ und schematisch.

Touché: Vor vier Jahren gelang Andrej Swjaginzew die bislang wuchtigste Kino-Abrechnung mit Korruption und Staatswillkür in Russland unter Putin. „Leviathan“ schilderte, wie ein Kleinstadt-Bürgermeister die Existenz eines Mechanikers vernichtete: Der Provinz-Potentat nahm seinem Untertanen Haus, Familie und Freiheit − einfach alles. In einem zweieinhalbstündigen Tsunami von Film, so erschütternd wie gnadenlos.

 

Info

 

Loveless

 

Regie: Andrej Swjaginzew,

127 Min., Russland/ Frankreich/ Belgien/ Deutschland 2017;

mit: Maryana Spyvak, Alexey Rozin, Matvey Novikov

 

Website zum Film

 

Doch eigentlich ist Andrej Swjaginzew ein Regisseur, der die Mechanik intimer Beziehungen so kühl wie präzise seziert − ähnlich wie Ingmar Bergman oder Ashgar Farhadi. Anders als seine naturalistisch inszenierenden Kollegen wählt Swjaginzew aber gern einen mehrdeutig schillernden Rahmen. In seinem Debütfilm „Die Rückkehr“ („Woswraschenije“), 2003 in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämiert, bleibt nebulös, wieso ein Vater nach zwölfjähriger Abwesenheit seine Söhne auf eine fatal verlaufende Angeltour mitnimmt.

 

Krankenschwester als Todesengel

 

In „Die Verbannung“ („Isgnanije“, 2007) soll der Zuschauer erratische Bruchstücke einer gescheiterten Ehe wie ein Puzzle selbst zusammensetzen. Die Krankenschwester „Jelena“ (2011) vergiftet ihren alten Gatten, um mit dessen Vermögen die Familie ihres nichtsnutzigen Sohnes aus erster Ehe zu alimentieren; wieso sie ihre Berufsethik so drastisch über Bord wirft, erscheint rätselhaft.

Offizieller Filmtrailer


 

Polizei pennt, Freiwillige schuften

 

Dagegen wirkt das setting von „Loveless“ wie eine plakative Sozialreportage aus dem heutigen Moskau. Angefangen mit dem Titel: Es geht um Lieblosigkeit, alles klar. Die führen Zhenya (Maryana Spyvak) und Boris (Alexey Rozin) ab der ersten Szene vor: Das Paar aus der oberen Mittelschicht lebt in einem modernen Hochhaus am Stadtrand. Beide haben früh geheiratet, sich auseinander gelebt und sind inzwischen mit anderen Partnern liiert. Nun wollen sie ihre Wohnung verkaufen und sich endgültig trennen; ausgiebig streiten sie darüber, wer künftig für Sohn Alyosha (Matvey Novikov) sorgen wird.

 

Als der Zwölfjährige mitbekommt, dass sich eigentlich weder Mutter noch Vater um ihn kümmern wollen, verschwindet er − spurlos. Die Vermisstenanzeige der plötzlich aufgelösten Eltern nimmt die Polizei nachlässig auf. Stattdessen erscheint eine Freiwilligen-Organisation auf der Bildfläche, deren charismatischer Leiter (Alexey Fateev) sich rastlos der Sache annimmt: Tagelang fahndet eine große Schar von Engagierten allerorten nach dem Jungen.

 

Psychogramm einer Kettenreaktion

 

Derweil suchen Boris und Zhenya deren pensionierte Mutter auf, die in einer windschiefen Datscha haust, um sie nach Alyosha zu fragen. Die verbitterte Vettel antwortet nur mit wüsten Flüchen; bei der Rückfahrt kommt es zwischen den Eheleuten zum endgültigen Bruch. Später sieht man beide in ihren neuen Partnerschaften: Zhenya langweilt sich mit ihrem wohlhabenden Anton. Boris wohnt mit Masha, ihrem gemeinsamen Baby und Mashas Mutter zusammen; räumliche Enge macht alle gereizt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Leviathan" - fesselnde Tragödie über Rechtlosigkeit in Russland unter Putin von Andrej Swjaginzew

 

und hier eine Rezension des Films "Paradies" - beeindruckend facettenreiches KZ-Drama aus Russland von Andrej Kontschalowski

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der die Zeichen liest - Uchenik" - eindrucksvolle russische Groteske über religiösen Fanatismus von Kirill Serebrennikov nach Theaterstück von Marius von Mayenburg

 

und hier einen Bericht über den Film "The Tribe" - radikales Gehörlosen-Jugenddrama aus der Ukraine von Myroslav Slaboshpytskiy.

 

Offenbar schwebte Regisseur Swjaginzew das Psychogramm einer Kettenreaktion vor: Da Zhenyas Mutter ihre Tochter herzlos behandelte, begegnet diese ihrem Gatten und Sohn mit emotionaler Kälte. Der weichliche Boris flüchtet sich in eine Affäre mit der liebesbedürftigen Masha und zeugt mit ihr ein Kind. Dass Seitensprünge von seinem Arbeitgeber, der russisch-orthodoxen Kirche, nicht toleriert werden, setzt ihn zusätzlich unter Druck.

 

Heil durch anonyme Gutmenschen

 

All das wird ziemlich hölzern und schematisch abgespult. Bergmans Klassiker „Szenen einer Ehe“ (1973) habe ihn inspiriert, sagt Swjaginzew − doch anders als dort oder in Farhadis Beziehungs-Dramen sind die Wortwechsel nie so plausibel oder zwingend, als dass sie diese menschliche Tragödie nachvollziehbar und berührend werden ließen. Die Protagonisten reden kaum miteinander, sondern meist autistisch vor sich hin − und müssen ihre Gemütsverfassung in Bekenner-Monologen aufsagen. Als in sich verkapselte Psycho-Krüppel.

 

Am meisten befremden aber die ominösen Suchtrupp-Helfer, denen Swjaginzew ermüdend viel Spielzeit einräumt. Diese anonymen Gutmenschen, die völlig unmotiviert auftauchen, stilisiert er zu Sendboten wahrer Humanität: „Der einzige Ausweg aus dieser Gleichgültigkeit ist, sich bedingungslos für andere einzusetzen.“ Eine genuin russische Denkfigur: In unserer verderbten Welt bringt allein Selbstaufopferung für den Nächsten das Heil.

 

Wirkt wie Kader-Nachwuchs

 

Obwohl Alexey Fateev als energischer Koordinator eher wie ein Kader der „Jungen Garde“ wirkt, die mit paramilitärischen Pfadfinder-Aktivitäten regimetreuen Nachwuchs heranzieht. Und wenn die guten Geister ausbleiben? Dann ist der Befund so banal wie universell: Manche Menschen heiraten zu früh und die falschen Partner, erkennen den Wert ihres Umfelds erst bei Verlust, tragen ihre seelischen Defekte aus einer Beziehung in die nächste. Und haben nicht die Fähigkeit, ihr Elend auf der Leinwand ergreifend darzustellen.