Wim Wenders

Der Himmel über Berlin (WA)

Zur schönen Aussicht: Der Engel Damiel (Bruno Ganz) sitzt auf der Schulter des Siegessäulen-Engels (c) Wim Wenders Stiftung. Foto: Studiocanal
(Kinostart: 12.4.) Rückblick auf eine verschwundene Stadt: Wim Wenders' Erfolgsfilm von 1987 war eine Hommage an Westberlin. Nun kommt er digital restauriert wieder ins Kino – mit allen Stärken und Schwächen eines Autorenfilms der alten Bundesrepublik.

Nachlass zu Lebzeiten: „Der Himmel über Berlin“ wird 30 Jahre nach seiner Premiere erneut im Kino aufgeführt – nun digital restauriert in 4K-Auflösung. Weil der Film sowohl schwarzweiße als auch farbige Passagen enthält, war 1987 aus technischen Gründen sechsfaches Umkopieren des Zelluloids nötig. Darunter habe damals die Bildqualität sehr gelitten, erklärt Regisseur Wim Wenders: Erst in der Neufassung seien die Einstellungen so nuancen- und kontrastreich, wie sie Kameramann Henri Alekan weiland aufgenommen habe.

 

Info

 

Der Himmel über Berlin (WA)

 

Regie: Wim Wenders,

128 Min., Deutschland/ Frankreich 1986/87;

mit: Bruno Ganz, Solveig Dommartin, Otto Sander

 

Weitere Informationen

 

Wenders muss es wissen. Für heutige, HDTV-verwöhnte Betrachter sieht der Film immer noch so aus, als illustriere er den klassischen Refrain der NDW-Pioniere „Fehlfarben“ von 1980: „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat“.

 

Nylonstrumpf als Kamera-Filter

 

Tatsächlich hatte Alekan beim Drehen einen Nylonstrumpf als Filter benutzt. Dadurch wirken die Bilder etwas verwaschen; zugleich schimmern Lichter und Gesichter mit weichem Glanz, wie man es von Stumm- und frühen Tonfilmen kennt. Dieser nostalgisch entrückte Look mag dazu beigetragen haben, dass dieser Film neben „Paris, Texas“ (1984) zu Wenders‘ größtem Erfolg wurde.

Offizieller Filmtrailer


 

Stadt der Phantome + Geister

 

Obwohl – oder eher: weil – die Stadt, in der er spielt, nur zwei Jahre später verschwinden sollte. Dadurch wurde „Der Himmel über Berlin“ zur definitiven Hommage an das alte Westberlin. In den 1980er Jahren, als beide Stadthälften sich im Status Quo eingerichtet hatten: der Ostteil als „Hauptstadt der DDR“ mit Plattenbau-Wohnsilos, Renommierbauten am Alexanderplatz und Bruchbuden für Nonkonformisten im Prenzlauer Berg. Und der Westteil mit üppig subventioniertem Kulturbetrieb für Touristen, dicken Berlin-Zulagen für Zuzügler und einer Hausbesetzer-Szene, die das Fehlen einer Sperrstunde voll auskostete.

 

Diese einzigartige Konstellation prägt praktisch jede Filmminute; angefangen mit der so absurden wie genialen Grundidee, als Protagonisten zwei Engel zu erfinden. Berlin als Stadt der Phantome, bevölkert von Geistern seiner fatalen Geschichte, die alles sehen und verstehen, aber nichts ändern können – außer, durch Handauflegen den Menschen ein wenig Lebensmut einzuflößen. Für die geschundene Ex-Metropole, der zwei Zusammenbrüche, vier Regime-Wechsel und eine Totalzerstörung widerfahren war, deren Narben an jeder Ecke ins Auge sprangen, ist das eine unüberbietbar treffende Metapher.

 

Erdenschwere Trapez-Artistin

 

Mit der macht es sich Regisseur Wenders recht bequem. Die Handlung ist ein lakonischer Witz: Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) schlendern in langen dunklen Mänteln durch die Straßen und notieren allerlei possierliche Episoden. Himmelsboten als ewige Flaneure – bis sich Damiel in die Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) verguckt. Ihr zuliebe gibt er sein schwereloses Dasein auf; nach ein paar Anläufen mit hölzernen Dialogen kriegen sie sich.

 

Wie im richtigen Leben: Dommartin und Wim Wenders waren seinerzeit ein Paar. Was erklärt, warum sich die Kamera an ihren Trapez-Nummern nicht satt sehen kann. Was aber auch erklärt, warum die französische Schauspielerin, die 2007 im Alter von nur 45 Jahren starb, nach ihren Wenders-Filmen kaum noch andere Rollen ergatterte: So geschmeidig sie sich unter der Zirkuskuppel windet, so steif und ausdrucksarm agiert sie am Boden.

 

Eine etwas andere Stadtrundfahrt

 

In einer Nebenhandlung fliegt noch Peter Falk ein, damals berühmt als TV-Kommissar „Columbo“. Er soll in einem Film über die NS-Zeit mitspielen, der im Weltkriegs-Hochbunker an der Schöneberger Pallasstraße gedreht wird. Für Wim Wenders ein Vorwand für spektakuläre Innenaufnahmen: Jeder Berliner kennt diesen Betonklotz, der 1977 mit einem Riegelhochhaus überbaut wurde, aber fast niemand war jemals drin.

 

Ohnehin bietet der Film über weite Strecken eine etwas andere Stadtrundfahrt: etwa zum Potsdamer Platz, damals eine öde Brache, von der bunt bemalten Mauer durchschnitten. Daneben stand auf der Westseite eine kurze Magnetschwebebahn-Teststrecke; sie wurde längst verschrottet. Hier lässt Wenders einen Geschichtenonkel namens „Homer, der alte Poet“ deklamieren: „Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden!“; heute klingt das arg plakativ.

 

Tristesse mit offener Zukunft

 

Eindrucksvoll sind weniger Sehenswürdigkeiten wie Siegessäule, Europa-Center, Messeturm oder ICC, sondern die normalen Seitenstraßen: in einer Welt ohne Digitalisierung und Globalisierung. Überdies hinkte Westberlin mit seinen Kohleheizungen und -händlern der restlichen Bundesrepublik um ein Jahrzehnt hinterher; noch fehlte der ganze optische Zuckerguss aus Hochglanzfarben und PR-Wortspielen. Werbeplakate sehen aus wie Schülerzeitungen. Der Friseurladen heißt „Friseur“, der Schnellimbiss „Imbiss“; dort werden drei Sorten Wurst, Buletten, Pommes und Kaffee für eine Mark verkauft. Mehr gibt es nicht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In Zeiten des abnehmenden Lichts" – Verfilmung des Erfolgsromans von Eugen Ruge durch Matti Geschonneck mit Bruno Ganz

 

und hier eine Kritik des Films "Die schönen Tage von Aranjuez (3D)" – Verfilmung eines Theaterstücks von Peter Handke durch Wim Wenders mit einem Auftritt von Nick Cave

 

und hier eine Besprechung des Films "Every Thing Will Be Fine" – Schuld-und-Sühne-Drama mit James Franco von Wim Wenders

 

und hier eine Beitrag über den Film "Das Salz der Erde" – fabelhaftes Doku-Porträt des Fotografen Sebastião Salgado von Wim Wender

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Wim Wenders. Landschaften. Photographien" – Retrospektive des fotografischen Werks im Museum Kunstpalast, Düsseldorf.

 

Im Überfluss gibt es dagegen Freiflächen: Der Lebensraum von zweieinhalb Millionen Westberlinern wirkt sehr locker bebaut und dünn bevölkert. Auf den breiten Straßen fahren wenige Autos, die kleinen Karossen ducken sich geradezu in ihre Parkplätze. Ständig stapfen die Protagonisten durch Brachen und irgendwelches Niemandsland – diese unbestimmten Freiräume scheinen auch ihre Gedanken zu beflügeln. Trotz – oder eher: wegen – vordergründiger Tristesse erscheint die Zukunft völlig offen und alles möglich; sogar das, was keiner ahnte, aber zwei Jahre später geschehen sollte.

 

Obsessionen einer Regisseurs-Generation

 

So wird der Film zum Memento einer versunkenen Welt – samt ihres Kinos. „Der Himmel über Berlin“ bündelt, was Autorenfilme der alten Bundesrepublik prägte und was an ihnen nervte. Wie unverfroren etwa Wim Wenders sein privates Umfeld beschäftigte: Sein Freund Peter Handke füllte das Drehbuch mit raunenden Monologen, etwa dem litaneiartig wiederholten „Lied vom Kindsein“. Sein Freund Nick Cave spielte am Ende einen brachialen Postpunk-Blues in voller Länge aus, mit Blixa Bargeld an der Gitarre. Seine Freundin Solveig übernahm die weibliche Hauptrolle. Solche Vetternwirtschaft störte offenbar keinen.

 

Der Film breitet auch die Obsessionen dieser Regisseurs-Generation aus: der verlorene Weltkrieg und seine Spuren – Wenders scheut sich nicht, Doku-Aufnahmen von Ruinen 1945 einzublenden. US-amerikanisches Genre-Kino als gelobtes Land für Filmemacher – Peter Falk darf daher Bruno Ganz erzählen, wo es langgeht. Und eine Faszination für den Zirkus: Zehn Jahre zuvor hatte der „Circus Roncalli“ der Manegen-Kleinkunst eine Renaissance beschert.

 

Kopfgeburt ohne Kompromisse

 

All das wirkt mittlerweile reichlich gestrig – teils sympathisch, teils befremdlich. Insbesondere, wie hemmungslos Wenders seine Grillen pflegte und Versatzstücke aneinander reihte, ohne sich um so banale Dinge wie Zusammenhänge, Plausibilität oder Timing zu scheren. Diese krude Subjektivität hat durchaus ihre eigenwillige Poesie: Hier verwirklicht ein Regisseur seine Kopfgeburt ohne Kompromisse – love it or leave it. Wohl deshalb wurde der Film beim Festival in Cannes 1987 für die beste Regie prämiert.