Filme enthalten mal mehr, mal weniger Wirklichkeit. Im ersten Fall scheitern sie oft am Anspruch, das Leben zu zeigen, wie es ist; im zweiten Fall daran, sich jedem Realitätsbezug zu entziehen. Oft wird es dann schwierig, sich mit den Figuren zu identifizieren, weil das eigene Leben viel weniger tragisch oder aufregend ist als im Film.
Info
Lady Bird
Regie: Greta Gerwig,
95 Min., USA 2017;
mit: Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Tracy Letts
Von Low- zu Millionen-Budget
Als Schauspielerin war Greta Gerwig in den letzten Jahren häufig im Kino zu sehen. Bei den mumblecore-Hits „Frances Ha“ (2012) und „Mistress America“ (2015) spielte sie nicht nur die Hauptrollen, sondern schrieb auch an den Drehbüchern dieser Low-Budget-Produktionen mit. Dagegen ist ihr Regie-Debüt ein millionenschweres Hollywood-Produkt, obwohl den Protagonisten jegliche Traumfabrik-Künstlichkeit fehlt.
Offizieller Filmtrailer
Aus dem fahrenden Auto springen
Der Film begleitet die 17-jährige Christine (Saoirse Ronan), die sich den Spitznamen Lady Bird gegeben hat, 2002 auf ihrem Weg von der High School zum College samt Loslösung von ihrer tyrannischen Mutter Marion (Laurie Metcalf). Die überarbeitete Krankenschwester ist sehr unzufrieden mit ihrem Leben; sie knüpft die Liebe zur Tochter an Bedingungen und Erwartungen, als missgönne sie ihrer Tochter alles, was sie selbst nicht erleben konnte. Das ist in ihre Trauermiene geradezu eingraviert.
Bereits die Anfangsszene zeigt ihre Beziehung als Hassliebe. Sie fahren im Wagen zu einem Provinz-College, in dem sich Christine vorstellen soll. Eben haben sie noch bei der Hörbuchfassung des Roman-Klassikers „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck einträchtig geweint; schon beginnen sie zu streiten. Sie hasse Kalifornien und wolle an die Ostküste, weil es dort Kultur gebe, wettert Christine. Mit ihrer Einstellung werde sie es nie zu etwas bringen, erwidert Marion – woraufhin Christine aus dem fahrenden Auto springt und sich den Arm bricht.
Nicht nur Kriege sind traurig
Fortan geht es um Brüche in der Eltern-Kind-Beziehung und beim Erwachsenwerden. Dabei wendet Gerwig das Lebensnahe und Authentische, was ihr selbst zueigen ist, auch auf die Regie an: Unperfekt sind nicht nur die Figuren aus der unteren Mittelklasse, sondern auch die Bilder. Sie wirken stets ein wenig angeraut wie die trockene Landschaft um Kaliforniens Hauptstadt Sacramento; das verleiht dem Film eine nostalgische Prä-HD-Patina.
Gerwig ist selbst in dieser Gegend aufgewachsen. Ihr Drehbuch beweist gutes Gespür für das Zeitkolorit der frühen Nullerjahre zwischen Post-9-11-Schock und Irak-Krieg; der läuft auf Fernsehern im Hintergrund ab. Als Chiffre für die komplizierte Gemütsverfassung der Protagonisten: „Verschiedene Dinge können traurig sein, nicht immer nur Krieg“, sagt Christine zu ihrem Freund Kyle (Timothée Chalamet). Er hat zuvor versucht, ihren Liebesschmerz gegen fremdes, fernes Leid auszuspielen.
Die beste Version seiner selbst sein
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Maggies Plan" – skurrile Tragikomödie mit Greta Gerwig als allein erziehender Mutter von Rebecca Miller
und hier einen Bericht über den Film "Jahrhundertfrauen (20th Century Women)" – liebevolles Patchwork-Familienporträt von Mike Mills mit Greta Gerwig
und hier eine Besprechung des Films "Jackie: Die First Lady" – einfühlsames Porträt der Kennedy-Witwe von Pablo Larraín mit Greta Gerwig
und hier einen Beitrag über den Film "Frances Ha" – wunderbar leichthändige Bohemien-Tragikomödie in New York von Noah Baumbach mit Greta Gerwig.
Für ihren Solipsismus findet der Film überraschenderweise nur selten passende Bilder, weil die meisten Szenen ziemlich ruckartig montiert sind. Da fehlen visuelle Ruhepole; das gleichen jedoch genial poetische Dialoge aus. „Ich möchte doch nur, dass du die beste Version deiner selbst wirst“, sagt Marion mit der unbewussten Brutalität einer fürsorglichen Mutter. ″“Aber was ist, wenn ich diese Version längst bin?“, fragt ihre Tochter zurück.
Unter berufsmäßigen Flügelstutzern
Solchen Gesprächen zu lauschen, ist zuweilen geradezu schmerzhaft. Sie machen den Film aber nicht nur zum gelungenen Generationen-Porträt, sondern auch zu einem Lehrstück pathologischer Kommunikation in Familien. Würde Gerwig nicht immer auch Bonmots und lakonischen Humor einflechten, ginge ihr Regie-Debüt fast als reines Drama durch.
Doch der Film balanciert das Schwere mit dem Leichten aus, die existentielle Einsamkeit eines Jugendlichen mit dem Heißhunger nach dem ersten Joint oder der Peinlichkeit beim ersten Sex. So lässt die Regisseurin miterleben, wie es sich anfühlt, in einer Mittelschichts-Welt aufzuwachsen, in der nichts mehr zählt als Geld. In einem Lebensabschnitt, in dem Eltern und Lehrer nur rigorose, berufsmäßige Flügelstutzer und Fantasiepolizisten sind: Lady Bird wünscht man am Schluss nur noch, endlich abzuheben.