Ein Raum mit nachlässig verhängten Fenstern; darin steht eine Reihe verschüchterter Mädchen. Die Älteste namens Elle Marja (Cecilia Sparrok) wird nach vorn gebeten; ein Mann vermisst ihr Gesicht mit einem seltsamen Instrument. Dann muss sie sich ausziehen und die Hände hinter den Kopf heben. Elle Marjas Schamgefühl und Unbehagen werden von den Erwachsenen ignoriert; sie fotografieren ihren nackten Körper. Hinter den Fenstern feixen die Dorfjungen, während alle Mädchen dieselbe Prozedur über sich ergehen lassen müssen.
Info
Das Mädchen aus dem Norden
Regie: Amanda Kernell,
110 Min., Schweden/ Norwegen/ Dänemark 2016;
mit: Cecilia Sparrok, Erika Sparrok, Maj Doris Rimpi
Kein Zirkustier mehr sein
Doch die intelligente Elle Marja ist auch eine Leseratte, eigenwillig und mutig. Was sie in einem Reiseführer über Uppsala liest, klingt viel verheißungsvoller als ihr Leben als künftige Rentierzüchterin bei ihrer Familie. Vor allem will sie kein „Zirkustier“ mehr sein, entgegnet sie ihrer Mutter – keine „schmutzige, stinkende Lappin“, wie die Schweden ständig lästern.
Offizieller Filmtrailer
Aus Elle Marja wird Christina
Als sich die Heranwachsende einmal im stibitzten Kleid zu einem Tanzabend wagt, ist sie plötzlich keine Aussätzige mehr, sondern eine begehrenswerte junge Frau. Mit ihrer traditionellen blau-roten Kleidung legt sie auch ihren alten Namen ab: Aus Elle Marja wird Christina. Hartnäckig und mit einer gewissen Unverfrorenheit geht sie ihren Weg; er führt sie aus den Weiten des Nordens in die kultivierte Universitätsstadt Uppsala. Doch auch dort kann sie zunächst ihrem Underdog-Status nicht entkommen.
Diese Geschichte einer Emanzipation bettet die 32-jährige Filmemacherin Amanda Kernell in eine Rahmenhandlung ein. Ein halbes Jahrhundert später ist Elle Marja/Christina eine alte Frau; sie fährt widerwillig mit Sohn und Enkelin nach Lappland zum Begräbnis ihrer einst geliebten Schwester Njenna (Erika Sparrok).
Karge Landschaften des Nordens
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Square" - schwedische Kunstbetriebs -Satire von Ruben Östlund
und hier einen Bericht über den Film "Turn me on!" - norwegische Teenie-Liebeskomödie von Jannicke Systad Jacobsen
und hier eine Besprechung der "documenta 14: documenta-Halle" mit einem Zehn-Meter-Stickbild zur Geschichte der Samen der Künstlerin Britta Marakatt-Labba aus Schweden
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "documenta 14: Neue Neue Galerie" mit einem Rentierschädel-Kunstwerk der Samen-Künstlerin Máret Ánne Sara aus Norwegen.
Für diese Film-Biographie in ruhigen Bildern betreibt die halbsamische Regisseurin keinen großen Ausstattungsaufwand. Zeitkolorit schafft sie mit einfachen Mitteln: Anstelle von opulenten Kostümen und Kulissen beeindrucken Aufnahmen der kargen Landschaften des Nordens. Ihren halbdokumentarischen Stoff beschreibt sie sehr authentisch, da sie beide Welten kennt.
Selbsthass von Rassismus-Opfern
Die meisten Laien-Akteure sind Samen; auch die Hauptdarstellerin Cecilia Sparrok, die über außergewöhnliches Charisma verfügt. Lange verharrt die Kamera auf ihren klaren Zügen mit dunklen Augen und kräftigen Brauen; in ihrem Gesicht spiegelt sich in rascher Folge Entschlossenheit, Verletztheit und Freude. Ein Antlitz, das sich ins Gedächtnis einbrennt.
Das im Norden Skandinaviens lebende Volk der Samen zählt nur etwa 140.000 Menschen, doch die in diesem Film erzählte Geschichte ist universell: weil sie exemplarisch vorführt, welchen Selbsthass Rassismus bei den Gedemütigten auslösen kann. Anstatt zwei Kulturen miteinander zu verbinden, muss Elle Marja/Christina wählen und eine Kultur gegen die andere austauschen – darin liegt ihre Tragik.