Marvin Litwak

Pawo

Eine Protestkundgebung der Tibeter während des Aufstands 2008. Foto: © Busch Media Group
(Kinostart: 19.4.) Freiheit für Tibet: Beim Aufstand 2008 wird ein junger Tibeter verhaftet und gefoltert, bevor er nach Indien fliehen kann. Sein Doku-Drama mit Laiendarstellern filmt Regisseur Marvin Litwak optisch opulent und inhaltlich schlicht.

Noch ein fast vergessener Kolonialkrieg: Vor genau 59 Jahren, im März 1959, erhoben sich die Tibeter gegen die chinesische Fremdherrschaft. Ihr Aufstand wurde von Maos Truppen brutal niedergeschlagen – mit rund 86.000 Todesopfern. Währenddessen floh der Dalai Lama nach Indien und richtete bald darauf in der Kleinstadt Dharamsala eine Exilregierung ein. Zahlreiche Untertanen folgten ihm; heutzutage leben etwa 100.000 Tibeter im indischen Exil.

 

Info

 

Pawo

 

Regie: Marvin Litwak,

117 Min., Indien/ Deutschland 2016;

mit: Shavo Dorjee, Tenzin Gyaltsen, Tenzin Jamyang

 

Website zum Film

 

Daran will Regisseur Marvin Litwak mit seinem Spielfilm-Debüt erinnern. Er wurde auf das Thema 2012 aufmerksam: Eine Zeitschrift berichtete über die Selbstverbrennung von Jamphel Yeshi. Der junge Tibeter hatte sich am Rand einer Demonstration in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi in Brand gesteckt. Eine unter tibetischen Aktivisten geläufige Protest-Methode: Zwischen 1998 und 2015 wählten rund 150 Personen den Flammentod, meist buddhistische Mönche.

 

„Free Tibet!“ bleibt folgenlos

 

Außer der kleinen Schar westlicher Anhänger des tibetischen Buddhismus bewegt das kaum jemanden. Die tibetische Exilregierung wird international nicht anerkannt. Der Dalai Lama gilt zwar als spirituelle Autorität; er ist gern gesehener Gast auf Konferenzen weltweit. Doch politisch bewirkt und bewegt er fast nichts: Keine ausländische Regierung will sich den Tibetern zuliebe mit der Wirtschafts-Supermacht Rotchina anlegen. „Free Tibet!“ bleibt als Slogan so wohlmeinend folgenlos wie „Venceremos!“ oder „Solidarität mit Palästina!“.

Offizieller Filmtrailer


 

Marsch über Himalaya nach Nepal

 

Darunter leidet der 18-jährige Dorjee (Shavo Dorjee), die Hauptfigur von „Pawo“. Sein Vater kämpfte im antichinesischen Widerstand und saß lange im Straflager. Nun stirbt er am Herzinfarkt, und seine Familie muss ohne ihn auskommen. Dorjees älterer Bruder verfällt dem Alkohol; er selbst beteiligt sich am tibetischen Aufstand im März 2008 mit mindestens 80 Toten.

 

Dorjee wird festgenommen, gefoltert und nach einem halben Jahr in Haft von seiner Mutter Nimya freigekauft. Um ihn vor weiteren Repressalien zu bewahren, schickt sie ihn nach Süden: Mit einem Schleuser und drei weiteren Tibetern marschiert Dorjee über Himalaya-Gebirgsketten nach Nepal. Vom Auffanglager in der Hauptstadt Kathmandu geht es weiter nach Dharamsala und schließlich in die indische Millionen-Metropole Delhi.

 

Getragenes Erzähltempo vom Welt-Dach

 

Im dortigen Tibeter-Viertel lebt seit etlichen Jahren sein Cousin und Schulfreund Kelsang (Tenzin Gyaltsen). Er besorgt Dorjee einen Schlafplatz und einen Job in der Garküche. Zudem trifft der Neuankömmling hier die schöne Tenzin (Rinchen Palzom) wieder, in die er sich während ihrer Flucht verliebt hatte. Doch seine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerschlägt sich. Tenzin hat ehrgeizige Pläne: Sie will in die Schweiz auswandern, um dort Tanz zu studieren. Dagegen kann Dorjee seine tibetische Heimat nicht vergessen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "My Reincarnation – Wiederkehr" – Doku über den Sohn eines tibetischen Dzogchen-Lehrmeisters von Jennifer Fox

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Indiens Tibet - Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya" – großartige Überblicks-Schau im Linden-Museum, Stuttgart

 

und hier einen Bericht über den Film "The Great Wall" – monumentales Historienfilm-Spektakel an der chinesischen Mauer von Zhang Yimou mit Matt Damon

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Buddha - Sammler öffnen ihre Schatzkammern" mit "232 Meisterwerken buddhistischer Kunst aus 2.000 Jahren" – fantastische Präsentation in der Völklinger Hütte.

 

Diese schlichte Flüchtlings-Fabel dehnt Regisseur Litwak auf 120 Minuten aus. Bei getragenem Erzähltempo, das den Wahrnehmungs-Gewohnheiten auf dem Dach der Welt entsprechen mag: Fürs hiesige Kino würde dem Film eine Verdichtung um eine halbe Stunde gut tun. Dagegen entspricht die Bildgestaltung beinahe zu sehr hiesigen Hochglanz-Standards – kein Wunder: Litwak hat sein Handwerk mit Musikvideos und Werbefilmen gelernt.

 

Helden-Filme in Tibet + China

 

Doch opulente Panorama-Aufnahmen und fast schon unnatürlich intensive Farben kontrastieren seltsam mit dem spröden Inhalt. Da beschönigt das Drehbuch nichts: Die Welt ist in Gut und Böse aufgeteilt, wortkarge Dialoge werden schleppend vorgetragen. Alle Darsteller sind Laien; manche unter ihnen – vor allem in den Nebenrollen – agieren überraschend lebendig. Mit Ausnahme des Hauptdarstellers: Außer markanten Gesichtszügen bietet Shavo Dorjee wenig, was ihn zum Helden qualifizieren würde.

 

Denn dieser Part ist ihm zugedacht: „Pawo“ bedeutet „Held“ auf Tibetisch. Vermutlich ist Regisseur Litwak bewusst, dass die chinesische Gegenseite einen gleichnamigen Film kennt. Regisseur Zhang Yimou, 1987 Gewinner des Goldenen Bären mit „Das Rote Kornfeld“, drehte 2002 die Großproduktion „Hero“.

 

Blockbuster vs. Ohnmachts-Chronik

 

In diesem Wuxia-Spektakel, dem chinesischen Fantasy-Genre, opfert sich der Held zum Wohle des Kaisers – was als Zhangs Kotau vor den Machthabern in Beijing interpretiert wurde. Dessen bei Kritik wie Publikum sehr erfolgreichen Blockbuster spiegelt Litwak nun mit seiner tibetischen Version: einer Chronik der Ohnmacht, finanziert durch Crowdfunding.