
Seit jeher liegen das Großartige und das Schreckliche in Russland nah beieinander. In diesem Riesenland kann man schon an etwas so Banalem wie dem Kauf einer Fahrkarte scheitern; dann wird man plötzlich von wildfremden Menschen gastfreundlich eingeladen. Diese Unberechenbarkeit macht das Leben dort aus Sicht westlicher Besucher aufregend; für viele Einheimische aber ist es schlicht extrem nervenaufreibend. Flucht in den Fatalismus ist weit verbreitet.
Info
Die Sanfte (Krotkaya)
Regie: Sergei Loznitsa,
143 Min., Frankreich/Deutschland/Litauen/Niederlande 2017
mit: Vasilina Makovtseva, Marina Kleshcheva, Lia Akhedzhakova
Pandämonium zwielichtiger Gestalten
Auf ihrer langen Reise aus einem Dorf irgendwo in der Provinz in eine weit entfernte, abgelegene Gefängnisstadt begegnet der stillen Heldin (Vasilina Makovtseva) ein wahres Pandämonium aus gewalttätigen Polizisten, kaltherzigen Beamten, vorgeblichen Helferinnen, schmalzigen Sängern, Trunkenbolden beiderlei Geschlechts und zwielichtigen Unterwelttypen.
Mehrmals fällt der Name Magadan. Um die ostsibirische Hafenstadt herum wurden in den 1930er Jahren zahlreiche Arbeitslager errichtet, der berüchtigte „Gulag“. Der Ort ist eine Chiffre für die unzähligen Gefängnisse des riesigen Landes. Mehr als 600.000 Russen sitzen ein: Russland zählt zu den weltweit vier Staaten mit den meisten Häftlingen.
Offizieller Filmtrailer
Auf kafkaesker Irrfahrt
Ins Herz der Finsternis begibt sich die namenlose Sanfte, weil ihr Mann dort seine Strafe absitzt; angeblich wegen Mordes. Das letzte Paket an ihn mit Lebensmitteln und Kleidung wurde ohne Angabe von Gründen zurückgeschickt. Also macht sie sich auf den weiten Weg, um herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Doch vor Ort lehnt eine herrische Gefängnisangestellte die Besucherin und ihr Paket brüsk ab. Sie solle sich an die zuständigen Instanzen wenden – aber wer sind die? Der Film zeigt, wie schutzlos die Menschen der Willkür der staatlichen Stellen ausgeliefert sind; Rechtssicherheit gibt es schlicht nicht. Wer vor Gericht landet, hat fast keine Chance auf einen Freispruch: Mehr als 99 Prozent aller Verfahren enden mit einer Verurteilung.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Death of Stalin" – brillante schwarze Komödie über Machtkämpfe im Spätstalinismus von Armando Iannucci mit Steve Buscemi
und hier eine Besprechung des Films "Leviathan" – vernichtende Film-Abrechnung mit Russland unter Putin von Andrej Swjaginzew
und hier einen Bericht über den Film "Der Fall Chodorkowski" – Dokumentation über den langjährig inhaftierten Oligarchen von Cyril Tuschi
und hier einen Bericht über die Dokumentation "Die Moskauer Prozesse" – Re-Inszenierung der Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau
Einheit von Volk und Lager-System
Stoisch und gleichmütig erträgt die niemals lächelnde, wortkarge Sanfte alle Zumutungen. Ständig wird sie genötigt, sich auf die eine oder andere Weise zu entblößen. Nur einmal begehrt sie kurz auf, und selbst dieser kleine Protest wird bestraft. Am Ende ihrer Odyssee sucht sie Hilfe bei einer kleinen Menschenrechts-Organisation, doch vergeblich: Von den lokalen Staatsorganen ständig schikaniert und ihren Mitbürgern als „Faschisten“ diffamiert, sind die NGO-Aktivisten reichlich demoralisiert.
Das alles ist mit einer solchen Präzision erzählt und gefilmt, dass es unausweichlich wirkt. Der filmischen Handschrift ist deutlich die Herkunft des Regisseurs vom Dokumentarischen anzumerken. Doch im letzten Drittel wechselt Loznitsa abrupt Stil und Tonlage: In einer surrealen Traumsequenz nimmt die Heldin an einem grotesken Bankett teil – oder ist es eher ein Standgericht? Hier versammeln sich noch einmal all die Gestalten, denen sie begegnet ist: aus Anlass einer Feier zur Einheit von Volk und Gefängnis-System.
Russland ist ein Gefängnis
Diese Szene seziert die russische Seele und setzt einen Kontrapunkt zum vorherigen Geschehen, der Gänsehaut bereitet. Die Botschaft von Loznitsas politischer Parabel wird überdeutlich: Das ganze Land ist ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Das russische Volk schläft; es träumt einen Albtraum ohne Erwachen. Das ist sehr bitter.