Sergei Loznitsa

Die Sanfte (Krotkaya)

Die Sanfte (Vasilina Makovtseva) auf ihrer mühevollen Reise in eine Gefängnisstadt am andere Ende Russlands. Foto: © Grandfilm
(Kinostart: 3.5.) Reise ans Ende der Nacht: Frei nach Dostojewski schickt der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa seine sanftmütige Heldin auf der Suche nach ihrem Mann durch den russischen Gefängnis-Gulag – in einer beeindruckenden politischen Parabel.

Seit jeher liegen das Großartige und das Schreckliche in Russland nah beieinander. In diesem Riesenland kann man schon an etwas so Banalem wie dem Kauf einer Fahrkarte scheitern; dann wird man plötzlich von wildfremden Menschen gastfreundlich eingeladen. Diese Unberechenbarkeit macht das Leben dort aus Sicht westlicher Besucher aufregend; für viele Einheimische aber ist es schlicht extrem nervenaufreibend. Flucht in den Fatalismus ist weit verbreitet.

 

Info

 

Die Sanfte (Krotkaya)

 

Regie: Sergei Loznitsa,

143 Min., Frankreich/Deutschland/Litauen/Niederlande 2017

mit: Vasilina Makovtseva, Marina Kleshcheva, Lia Akhedzhakova

 

Website zum Film

 

In „Die Sanfte“ blendet der ukrainische Regisseur Sergei Losnitza die sympathischen Züge Russlands und seiner Menschen komplett aus.  Stattdessen zeichnet er ein unbarmherziges Bild des Landes, in dem er selbst etliche Jahre lebte. Sein Film hat mit der gleichnamigen Novelle von Fjodor Dostojewski inhaltlich nur gemeinsam, dass eine duldsam leidende Frauenfigur im Mittelpunkt steht – ein gängiges Motiv der russischen Kultur.

 

Pandämonium zwielichtiger Gestalten

 

Auf ihrer langen Reise aus einem Dorf irgendwo in der Provinz in eine weit entfernte, abgelegene Gefängnisstadt begegnet der stillen Heldin (Vasilina Makovtseva) ein wahres Pandämonium aus gewalttätigen Polizisten, kaltherzigen Beamten, vorgeblichen Helferinnen, schmalzigen Sängern, Trunkenbolden beiderlei Geschlechts und zwielichtigen Unterwelttypen.

 

Mehrmals fällt der Name Magadan. Um die ostsibirische Hafenstadt herum wurden in den 1930er Jahren zahlreiche Arbeitslager errichtet, der berüchtigte „Gulag“. Der Ort ist eine Chiffre für die unzähligen Gefängnisse des riesigen Landes. Mehr als 600.000 Russen sitzen ein: Russland zählt zu den weltweit vier Staaten mit den meisten Häftlingen.

Offizieller Filmtrailer


 

Auf kafkaesker Irrfahrt

 

Ins Herz der Finsternis begibt sich die namenlose Sanfte, weil ihr Mann dort seine Strafe absitzt; angeblich wegen Mordes. Das letzte Paket an ihn mit Lebensmitteln und Kleidung wurde ohne Angabe von Gründen zurückgeschickt. Also macht sie sich auf den weiten Weg, um herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Doch vor Ort lehnt eine herrische Gefängnisangestellte die Besucherin und ihr Paket brüsk ab. Sie solle sich an die zuständigen Instanzen wenden – aber wer sind die? Der Film zeigt, wie schutzlos die Menschen der Willkür der staatlichen Stellen ausgeliefert sind; Rechtssicherheit gibt es schlicht nicht. Wer vor Gericht landet, hat fast keine Chance auf einen Freispruch: Mehr als 99 Prozent aller Verfahren enden mit einer Verurteilung.

 

Hintergrund

 

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Für die Sanfte beginnt eine kafkaeske Irrfahrt. Die Kamera zeigt dabei ununterbrochen verlebte, von Alkohol und Niederlagen gezeichnete Gesichter. Undurchsichtige Typen versprechen Abhilfe gegen gewisse Gegenleistungen, alles bleibt jedoch im Ungefähren. Aus Sicht des Regisseurs krankt die russische Gesellschaft an Rohheit, Misstrauen und Größenwahn. Allerorten herrscht Lieblosigkeit: So schwadroniert eine Passagierin im Bus beiläufig über zerstückelte Leichen und die Liebe – in einem Atemzug.

 

Einheit von Volk und Lager-System

 

Stoisch und gleichmütig erträgt die niemals lächelnde, wortkarge Sanfte alle Zumutungen. Ständig wird sie genötigt, sich auf die eine oder andere Weise zu entblößen. Nur einmal begehrt sie kurz auf, und selbst dieser kleine Protest wird bestraft. Am Ende ihrer Odyssee sucht sie Hilfe bei einer kleinen Menschenrechts-Organisation, doch vergeblich: Von den lokalen Staatsorganen ständig schikaniert und ihren Mitbürgern als „Faschisten“ diffamiert, sind die NGO-Aktivisten reichlich demoralisiert.

 

Das alles ist mit einer solchen Präzision erzählt und gefilmt, dass es unausweichlich wirkt. Der filmischen Handschrift ist deutlich die Herkunft des Regisseurs vom Dokumentarischen anzumerken. Doch im letzten Drittel wechselt Loznitsa abrupt Stil und Tonlage: In einer surrealen Traumsequenz nimmt die Heldin an einem grotesken Bankett teil – oder ist es eher ein Standgericht? Hier versammeln sich noch einmal all die Gestalten, denen sie begegnet ist: aus Anlass einer Feier zur Einheit von Volk und Gefängnis-System.

 

Russland ist ein Gefängnis

 

Diese Szene seziert die russische Seele und setzt einen Kontrapunkt zum vorherigen Geschehen, der Gänsehaut bereitet. Die Botschaft von Loznitsas politischer Parabel wird überdeutlich: Das ganze Land ist ein Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt. Das russische Volk schläft; es träumt einen Albtraum ohne Erwachen. Das ist sehr bitter.