
Um den neuen Film von Stéphane Brizé zu verstehen und zu genießen, muss man einige Muße investieren. Die stoische Langsamkeit von „Ein Leben“ entspricht so gar nicht den flotten Sehgewohnheiten des 21. Jahrhunderts; der Film verlangt, sich mit viel Ruhe auf seine Entschleunigung einzulassen. Bringt man allerdings die nötige Geduld auf, wird man mit einer sehr subtilen Geschichte belohnt; sie breitet ihre Bilder ganz unaufdringlich aus, fast traumgleich, und klingt noch lange leise nach.
Info
Ein Leben
Regie: Stéphane Brizé,
119 Min., Frankreich/ Belgien 2016;
mit: Judith Chemla, Swann Arlaud, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau
Nach der Schulzeit im Kloster
1819 kehrt die junge Adelige Jeanne (Judith Chemla) nach ihrer Schulzeit im Kloster auf den Landsitz ihrer Eltern in der Normandie zurück. Baron (Jean-Pierre Darroussin) und Baronin Le Perthuis des Vauds (Yolande Moreau) sind sanfte und fortschrittliche Eltern. Das gemeinsame Leben im prächtigen Schloss ist harmonisch, friedlich und naturverbunden. Die Tage plätschern ruhig dahin und verstreichen ohne große Ereignisse.
Offizieller Filmtrailer OmU
20 Minuten exquisiter Stillstand
Die Jahreszeiten vergehen im ewig gleichen Rhythmus; sie geben jegliche Stimmung und Aktivität vor. Im Frühjahr wird Gemüse angebaut; der luftige Sommer bringt eine Zeit der beschwingten Ausgelassenheit voller Besucher und Vergnügungen. Der Herbst trübt die Gedanken und bringt die Bewohner des Schlosses zur Ruhe. Den gesamten Winter über verharren sie in einer Art Kältestarre: In ländlicher Abgeschiedenheit hängt man Gedanken nach. Alle warten auf ein Wiedererwachen von Leben und Leichtigkeit.
In den ersten 20 Minuten des Filmes passiert buchstäblich nichts; die völlige Abwesenheit von Drama oder Plot sind nicht leicht auszuhalten. Minutenlang beobachtet man die adlige Familie beim Salat setzen, Briefe schreiben oder lesen sowie bei ihren Mahlzeiten. Ganz langsam entsteht allerdings eine Stimmung, die das Dasein vor 200 Jahren spürbar werden lässt; sie hüllt den Zuschauer in ein stilles Glücksgefühl ein.
Auftritt des jugendlichen Verführers
Jenes Gefühl fehlt später umso dramatischer, wenn jene friedlichen Tage Geschichte sind, denn das Leben von Jeanne schlägt unerwartete Kapriolen. Ihre Erfahrungen, ihr Schicksal und ihre Enttäuschungen stehen wohl exemplarisch für viele Frauen ihres Standes in jener Epoche.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Wert des Menschen – La Loi du Marché" – Porträt eines Langzeit-Arbeitslosen von Stéphane Brizé
und hier eine Besprechung des Films "Fräulein Julie" – Verfilmung des Skandal-Dramas über eine verführte Adlige von August Strindberg durch Liv Ullmann mit Jessica Chastain + Colin Farrell
und hier einen Beitrag über den Film "Confession" - exzellente Verfilmung des Liebesroman-Klassikers von Alfred de Musset durch Sylvie Verheyde mit Pete Doherty
und hier einen Bericht über den Film "Fräulein Else" – experimentierfreudige Verfilmung der Novelle von Arthur Schnitzler über Selbstmord aus verlorener Ehre durch Anna Martinetz.
Sohn verspielt das Vermögen
Es dauert nicht lange, bis Julien das Dienstmädchen schwängert und eine Affäre mit Jeannes bester Freundin beginnt. Jeanne muss sich entscheiden, wie sie mit diesem Vertrauensverlust umgehen soll, und mit wem sie das Geheimnis ihrer lieblosen Ehe teilen kann. Auch ihr gemeinsamer Sohn Paul (Finnegan Oldfield) enttäuscht auf ganzer Linie: Er verspielt das Familienvermögen, bis das prächtige Anwesen nicht mehr zu halten ist.
Während Jeanne zur Untätigkeit und Duldung einer Ehefrau und Mutter verdammt ist, vergehen die Jahreszeiten auch in Zeiten des Kummers beständig im gleichbleibenden Trott. Je trostloser die Gegenwart, desto mehr flüchtet sich die alternde Frau in Erinnerungen an bessere Zeiten.
Im 4:3-Format eingesperrt
Das Leben als Aneinanderreihung von Enttäuschungen, Tristesse und verlorenen Kämpfen – der düstere Ton von Maupassant spiegelt sich auch in den Bildern von Kameramann Antoine Héberlé: Sein eckiges 4:3-Format sperrt die Protagonisten quasi in eine kleine Schachtel ein. Breite schwarze Balken links und rechts auf der Leinwand muten altmodisch und beengend an.
Licht und Sättigung der Farben verändern sich kunstvoll im Rhythmus der Jahreszeiten; sie sorgen für stimmungsvolle Bilder, die stets die Seelenzustände widerspiegeln. Ein langsamer, zarter Film, der nicht jedermanns Sache sein dürfte – aber formvollendet ein vergangenes Lebensgefühl heraufbeschwört.