Mit „Hello World“ fing die Digitalisierung an: Damit setzte 1974 ein Handbuch für die Programmiersprache „C“ ein. Allem Anfang wohnt ja ein Zauber inne – das will diese Ausstellung ausnutzen. Noch einmal ganz von vorne beginnen: Wie sähe die Nationalgalerie heute aus, wenn ihre Bestände nicht aus exklusiv westlicher, sondern egalitär kosmopolitischer Perspektive zusammengetragen worden wären? Wenn man nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Europa und den USA, sondern herausragende Werke aus aller Welt gesammelt hätte?
Info
Hello World – Revision einer Sammlung
28.04.2018 - 26.08.2018
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, Berlin
Katalog im Juni;
Begleitheft gratis
Rundumschlag in allen Räumen
Der Globalisierung der Gegenwartskunst nun „Hello World“ zuzurufen, ist kein kecker Gruß, eher eine nachholende Geste. Die Entwicklung völlig verschlafen hat die Nationalgalerie zwar nicht: Sie stellte schon öfter Künstler und Strömungen abseits des Geläufigen vor – doch meist nur einzelne. Nun wagt sie den großen Rundumschlag: Alle Räume des Hamburger Bahnhofs sind einbezogen, samt der schier endlosen Saalflucht der Rieckhallen.
Interview mit Direktor Udo Kittelmann + Impressionen der Ausstellung
Die ganze Kunstwelt in 13 Kapiteln
Auf 10.000 Quadratmetern Fläche werden mehr als 250 Künstler mit rund 750 Arbeiten gezeigt. 200 kommen aus dem Fundus der Nationalgalerie, 150 aus anderen Berliner Museen – vor allem dem Ethnologischen und demjenigen für Asiatische Kunst – und 400 von fremden Leihgebern. Diese gigantische Menge haben 13 Kuratoren in ebenso viele Kapitel unterteilt; manche sind geographisch, andere zeitlich oder thematisch definiert. Recht unsystematisch und voller Lücken, aber auch mit etlichen Verbindungen und Wechselbezügen untereinander – wie die Kunstwelt selbst.
Einen neuen, politisch korrekten Kanon bietet diese Schau also nicht; aber ein unglaubliches Füllhorn verschiedenster Reize für faszinierende Entdeckungen. Etwa zur „indischen Moderne“: 2011 zeigte das Museum für Asiatische Kunst 100 Bilder von Rabindranath Tagore (1861-1941), dem Literaturnobelpreisträger von 1913. Sehr expressive, kaum klassifizierbare Arbeiten – leider fand ihre isolierte Präsentation wenig Aufmerksamkeit.
Adliger aus Java begründet Moderne
Nun stehen sie im Kontext ihrer Epoche: Angefangen mit den ätzenden politischen Karikaturen seines Neffen Gagendranath Tagore (1867-1938), der einem George Grosz an Schärfe nicht nachsteht, über den sozial engagierten, plakativen Stil von Satish Gujral (geb. 1925) bis zur Farbfeldmalerei eines Biren De (1926-2011) oder Krishen Khanna (geb. 1925), die von tantrischem Denken beeinflusst sind – rein abstrakt, doch in Komposition und Palette völlig anders als bei westlichen Kollegen. Und sie bilden nur eine von zahlreichen Schulen auf dem Subkontinent.
Wie viele Varianten von Modernität bislang weitgehend ignoriert wurden, zeigt auch die Abteilung zur Kunst auf Bali. Beginnend mit Belegen für europäischen Orientalismus im 19. Jahrhundert – auch Raden Saleh (1811-1880) bediente ihn mit exotischen Motiven. Der Adlige aus Java reiste 1829 nach Den Haag, wo er als erster Nichteuropäer akademisch ausgebildet wurde. Später lebte er lange in Dresden, doch seine effektvoll dramatischen Gemälde sind hierzulande fast vergessen. Anders in Indonesien: Da gilt er als Begründer der nationalen modernen Malerei.
Hybrid-Kunst für Balinesen + Touristen
Die Moderne nach Bali importierte aber Walter Spies (1895-1942): Der Ex-Lebensgefährte des Stummfilm-Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau ließ sich 1927 auf der Insel nieder. Sein zuvor neusachlicher Stil wandelte sich zu leuchtend dynamischem Magischen Realismus; 1934 gründete Spies mit dem Niederländer Rudolf Bonnet und dem lokalen Maler I Gusti Nyoman Lempad die Künstlergruppe „Pita Maha“. Sie wirkte stark prägend; bis heute werden Spies und Bonnet auf Bali als Wegbereiter der dortigen zeitgenössischen Kunst betrachtet.
Ihr Erfolg hatte handfeste Gründe: Balinesische Maler wollten ihr Repertoire modernisieren, um den Geschmack von Kolonialbeamten und Touristen zu treffen. Die wiederum zog der Mythos einer ursprünglichen Insel-Kultur an; sie wurde gerade deshalb eifrig gepflegt. So entstand eine einzigartige Hybrid-Kunst, von der erstklassige Beispiele aus den 1980/90er Jahren zu sehen sind: Pastellfarbene Wimmelbilder mit ineinander verschlungenen Figuren, die Episoden uralter Hindu-Epen gleichrangig mit Elementen heutiger Technik wie etwa Flugzeugen behandeln.
Moderne ist keine Einbahnstraße
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Unvergleichlich. Kunst aus Afrika" - hervorragende Gegenüberstellung von afrikanischen und europäischen Skulpturen im Bode-Museum, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "A Tale of Two Worlds" - umfassende Vergleichs-Ausstellung von Nachkriegskunst aus Lateinamerika und Europa im MMK 1, Frankfurt am Main
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "The Global Contemporary – Kunstwelten nach 1989" zur Globalisierung des Kunstmarkts im ZKM, Karlsruhe
und hier einen Bericht über die Ausstellung "The Last Harvest: Rabindranath Tagore" - guter Überblick über das malerische Werk des indischen Literaturnobelpreisträgers im Museum für Asiatische Kunst, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Raden Saleh (1811–1880): Ein javanischer Maler in Europa" - erste europäische Retrospektive des indonesischen Malers im Lindenau-Museum, Altenburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Art et Liberté - Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" - erste westliche Wanderschau zum Thema in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf.
Hinter jeder Wegbiegung wartet ein neues Wechselbad der Eindrücke: Kühle Op-Art und kinetische Kunst aus Kroatien, posttotalitäre Soz-Art aus Slowenien; abstrakte US-Maler, die indianische Motive übernehmen oder japanische Avantgardisten, die sich im Berlin der 1920er Jahre inspirieren lassen. Wenn es in diesem riesigen Kaleidoskop einen roten Faden gibt, dann am ehesten denjenigen omnipräsenter gegenseitiger Einflüsse. Nicht alles hängt mit allem zusammen, aber vieles mit vielem. Die Moderne ist keine Einbahnstraße – schon gar nicht aus einem westlichen Zentrum in nachholende Peripherien.
Überholte Nachkriegskunst-Klassiker
Da wirkt es befremdlich, wenn trotzdem ein halbes Dutzend Einzelkünstler auf Podeste gehoben wird, indem man komplette „Zwischenräume“ mit ihren Großinstallationen füllt. Die vom Moskauer Konzeptualisten Ilya Kabakov sieht mittlerweile nicht nur optisch blass aus; über die monotonen „Date Paintings“ von On Kawara ist die Zeit längst hinweg gegangen. Und Joseph Beuys‘ Basalt-Hinkelsteine bleiben unverrückbar liegen, weil ihr Abtransport offenbar zu schwer fällt.
Kalauer beiseite: Gerade die Dichte und Fülle nichtwestlicher Kunst lässt deutlich werden, wie überholt und öde viele Klassiker des westlichen Nachkriegskunst-Kanons inzwischen wirken. Robert Rauschenberg, Cy Twombly oder Andy Warhol stehen für eine längst verflossene Ära; das Missverhältnis von Aufwand und Ausdrucksschwäche ihrer Materialschlachten macht sie reif fürs Depot. Zumindest in dieser Ausstellung würde sie kein Besucher vermissen.
Bitte bald „Hello World 2.0“!
Natürlich ließe sich bemängeln, dass vieles fehlt: Warum wird Armenien ein eigener Saal gewidmet, aber der übrige Kaukasus ausgeblendet? Außer Mexiko ist kein lateinamerikanisches Land vertreten, außer ein paar Vorkriegs-Japanern fehlt Ostasien gänzlich – Afrika gleichfalls. Doch diese Schau ist keine Kunst-Olympiade, sondern eine grandiose Geste des Scheuklappen-Ablegens. Alles weitere mag sich künftig fügen: Wir freuen uns auf das Update „Hello World 2.0“!