
The man they loved to hate: Oscar Wilde (1854-1900) war das berühmteste britische Justizopfer Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1880 hatte er die angelsächsische Welt mit seinem scharfzüngigen Esprit begeistert; seine Erzählungen, Komödien und Essays, die im Jahrestakt erschienen, waren allesamt Bestseller. Zugleich wurde Wildes extravagantes Auftreten und sein Bekenntnis zu radikalem Ästhetizismus eine beliebte Zielscheibe für Spott und Kritik.
Info
The Happy Prince
Regie: Rupert Everett,
105 Min., Deutschland/ Belgien/ Italien 2017;
mit: Rupert Everett, Colin Firth, Colin Morgan, Emily Watson
Regie-Debüt von Rupert Everett
Diesen drei Jahren ist „The Happy Prince“ gewidmet – und mit Wildescher Ironie betitelt: Als er 1888 das gleichnamige Kunstmärchen veröffentlicht hatte, galt er noch als glücklicher Prinz des Literaturbetriebs. Für Rupert Everett, der nach fast 40-jähriger Bühnen- und Leinwandkarriere erstmals Regie führt und zugleich die Hauptrolle übernimmt, ist der Film offenkundig ein Herzensprojekt; er hat es mit viel Liebe zum historischen Dekor und Detail ausgestattet.
Offizieller Filmtrailer
Außer Gefängnis-Ballade keine Zeile mehr
Ihn interessieren nicht Wildes Erfolge, sondern ihr Ausbleiben: Wie erträgt der frühere Gesellschaftslöwe seine allgemeine Ächtung? Wie kommt der geistreichste Autor englischer Sprache damit zurecht, dass seine funkelnden Bonmots im Ausland keiner versteht? Und wie lebt ein luxussüchtiger Dandy, wenn ihm dauernd die Pleite droht? Antworten sucht Everett in einer Form, die Wilde gewiss gefallen hätte: als lose Szenenfolge, die räumlich und zeitlich munter hin und her springt – bis zur nächsten Pointe.
Anfangs, als er nach Frankreich übersetzt, sieht alles noch viel versprechend aus. In der Hafenstadt Dieppe erwarten ihn seine Freunde Reginald „Reggie“ Turner (Colin Firth) und Robert „Robbie“ Ross (Edwin Thomas), versorgen ihn mit Kleingeld und schmieden große Pläne. Doch Oscar Wilde ist ausgebrannt; die Demütigung der Haft hat ihn unheilbar versehrt. Außer einer „Ballade vom Zuchthaus zu Reading“ wird er nichts mehr schreiben.
Mit Ex-Geliebtem in der Campania genießen
Stattdessen mutiert er zu einer Art Deluxe-Vagabund, der sich durch halb Europa treiben lässt und die Mittel dafür irgendwie zusammenschnorrt: Nie ist er um ein haltloses Versprechen oder eine gute Ausrede verlegen. Sein Charisma fasziniert noch immer, doch anstelle von Theatern und Salons sind nun Kneipen seine Bühnen. Wenn er in seiner eindrucksvollen Erscheinung auf den Tisch steigt, deklamiert und schmettert, jubeln ihm wildfremde Menschen zu.
In Neapel trifft er wieder mit Lord Alfred „Bosie“ Douglas (Colin Morgan) zusammen. Der 16 Jahre jüngere Beau kokettiert erst mit einer Fortsetzung ihrer Partnerschaft, lässt ihn dann aber sitzen – Wilde kann ihm nichts mehr bieten. Doch zuvor haben beide noch ausgiebig die natürlichen Reize der Campania genossen; fernab aller viktorianischen Prüderie und Doppelmoral.
Mit Absinth + Kokain aus der Apotheke
Hintergrund
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und hier einen Bericht über die Ausstellung "Am I Dandy? Anleitung zum extravaganten Leben" – kleine Kulturgeschichte des Dandytums im Schwulen Museum, Berlin
und hier eine Besprechung des Films "Die Poetin" – Biopic über die lesbische US-Dichterin Elizabeth Bishop im brasilianischen Exil von Bruno Barreto.
So einfach kommt Wilde später in Paris nicht mehr zu seinem Vergnügen. Doch mit Absinth, Kokain aus der Apotheke und spannenden Geschichten kann er immer noch Waisenjungs um den Finger wickeln, die mitten in der Hauptstadt in Bretterverschlägen hausen. Der Regisseur Everett wertet oder denunziert das nicht, sondern zeigt es einfach als Sittenbild: Prostitution beider Geschlechter war damals in europäischen Metropolen allgegenwärtig.
Wie Lebens-Film vor innerem Auge
Und der Hauptdarsteller Everett spielt das genauso lustvoll aus wie seinen eigenen, unaufhaltsamen Verfall. Ihm ergibt sich Wilde ohne Gegenwehr; allenfalls kommentiert er ihn mit mokanten Aperçus. Seine letzten Worte in einem schäbigen Hotelzimmer sollen gewesen sein: „Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich.“
Ob sein Abgang durch Syphilis oder eine Hirnhautentzündung verursacht war, ist bis heute ungeklärt. Everett versammelt zum Schluss seine engsten Freunde um sich; sie treten alle mitfühlend, aber unsentimental auf. Ein geist- und würdevolles Ende trotz ärmlicher Kulisse: Vielleicht sah der Film seines Lebens, den Oscar Wilde auf dem Sterbebett vor seinem inneren Auge ablaufen sah, ganz ähnlich aus.