Indiens Künstlerinnen zeigen die Zähne. Gleich im Eingangsbereich des Kunstmuseums Wolfsburg hockt die Göttin Kali, splitternackt und kopflos. Sie bietet dem Besucher mit anmutiger Geste eine Teetasse dar, auf deren Rand menschliche Zähne blitzen: ein Motiv mit surrealem Biss und traditionellen Wurzeln in der indischen Mythologie. Die Künstlerin Bharti Kher ist in London geboren und in der westlichen Kunstwelt zu Hause. Seit 1992 lebt sie in Indien, dem Land ihrer Vorfahren.
Info
Facing India
29.04.2018 - 07.10.2018
täglich außer montags
11 bis 18 Uhr,
im Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1
Katalog 38 €
Soundtrack der Globalisierung
Reena Saini Kallat knüpft die weltumspannenden Flüchtlingsströme und digitalen Datennetze zu einer riesigen Weltkarte aus farbigen Elektrokabeln. Aus Lautsprechern tönt der leise Soundtrack der Globalisierung aus Schiffstuten, dem Surren von Dronen und dem Geschrei von Zugvögeln. Das Webmuster dieses „Woven Chronicle“ geben Maschendrahtzäune und Stacheldraht vor: Sie verweisen auf willkürliche Grenzziehungen als Ursache von Migrationsbewegungen. Kallats eigene Familie wurde durch die indisch-pakistanische Teilung im Jahr 1947 auseinandergerissen.
Feature über die Ausstellung; © Kunstmuseum Wolfsburg
Mit hybriden Tierstudien zum Frieden
Mit roter Farbe hat die Künstlerin das Waffenstillstandsgebiet der bis heute umkämpften Region auf nackte Frauenrücken gestempelt: Geschichte schreibt sich nicht nur in die Psyche, sondern auch in Körper ein. Die Fotoserie erinnert auch daran, dass im Kaschmir-Konflikt zehntausende Frauen von Soldaten vergewaltigt wurden – ein Umstand, der jahrzehntelang totgeschwiegen wurde.
Nur scheinbar harmlos wirkt dagegen Kallats Kabinett mit handgezeichneten Pflanzen-und Tierstudien. Es sind hybride Spezies, gemixt aus der Flora und Fauna von Konfliktregionen wie Mexiko und Texas. Den palästinensischen Nationalvogel Sunbird und den israelischen Wiedehopf vereint Kallat zu einer neuen Kreatur. Utopischer Friede.
Auf dem Weg zur globalen Anerkennung
Grenzen benennen, außer Kraft setzen und ignorieren – darum geht es allen sechs Künstlerinnen, so die Kuratorin Uta Ruhkamp. Sie bereiste im Vorfeld der Ausstellung mehrfach den indischen Subkontinent, sprach mit Kunstschaffenden, Galeristinnen und Aktivistinnen. Denn das in weiten Teilen noch immer äußerst patriarchalische Indien ist in Bewegung geraten. Eine neue Generation von Frauen macht auf sich aufmerksam.
Für die Ausstellung wählte Ruhkamp schließlich gezielt einzelne Künstlerinnen aus verschiedenen Landesteilen aus. Eine absolut überzeugende Entscheidung: Keine der Protagonistinnen beschränkt sich auf ein einziges Medium oder einen Stil. Viele von ihnen haben in London oder in Amerika studiert. Zwischen 1969 und 1980 geboren, werden sie zunehmend auch weltweit wahrgenommen.
Smog im Glaskasten
Manche Künstlerinnen agieren an der Grenze zum Polit-Aktivismus; etwa Vibha Galhotra als Ökofeministin und Tejal Shah mit ihren unverblümten Attacken auf tradierte Geschlechterrollen. Galhotras Arbeitsfeld ist die überbevölkerte und smogverseuchte Megalopolis Delhi. Performativ schöpft die Künstlerin mit einem Schmetterlingsnetz die feinstaubbelastete Drecksluft der Großstadt in Glaskästen, oder sie zieht ein weißes Tuch so lange durch den heiligen Fluss Yamuna, bis es pechschwarz trieft.
Für die urbanen Überwachungsarmeen der Zukunft hat sie eine Camouflage-Uniform entworfen, deren Stoffmuster dem Häusermeer der Großstadt gleicht. Tatsächlich hat der indische Staat die Überwachung seiner Untertanen bereits derart perfektioniert, dass 99 Prozent der Inder samt Fingerabdruck und Iris-Scan digital erfasst sind.
Blumenkohl als Atompilz
Eiseskälte weht einem aus den großformatigen Interieur-Fotografien von Prajakta Potnis entgegen, der jüngsten Künstlerin. Rollentreppen führen in futuristische Räume, die wie dystopische Raumschiffe wirken. Tatsächlich hat die Künstlerin einfach das Innere ihres Kühlschrank fotografiert. Sie nutzt die Küche als politischen Ort: Im Mixen, Kühlen, Waschen und Schleudern findet sie Metaphern für die Krisen der Gegenwart. Ein Blumenkohl mutiert im bläulichen Licht des Kühlschranks zum Atompilz. Mit der politischen Eiszeit des Kalten Krieges hat sich Potnis während eines Stipendiums in Berlin auseinandergesetzt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Indien entdecken!" – facettenreicher Überblick über Nachkriegs-Moderne + Gegenwartskunst in der Zitadelle Spandau, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Subodh Gupta – Everything is inside" – brillante Werkschau des indischen Künstlers im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt/ Main
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "India Awakens – Under The Banyan Tree" mit zeitgenössischer Kunst aus Indien im Essl Museum in Klosterneuburg bei Wien
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Kapoor in Berlin" mit Werken des britisch-indischen Künstlers Anish Kapoor im Martin-Gropius-Bau, Berlin
Erotische Dentalprothesen
Mithu Sen, die zur Pressekonferenz als einzige im traditionellen indischen Gewand erschien, lehnt alle Interpretationen ihrer Arbeit und Person rigoros ab. Für ihr „Museum of Unbelongings“ hat sie aus unzähligen Fundobjekten eine Miniausstellung in der Ausstellung kreiert. Bizarre Götterfiguren, Muscheln, Erotika und privater Nippes vereinen sich zu einer intimen Kunst- und Wunderkammer. Was ist es wert gesammelt zu werden, was ist Kunst?
Und schon wieder blecken Zähne: Mithu formt aus dem Material fleischfarbener Dentalprothesen amorphe Körperlandschaften, aus denen Zahnreihen wie Perlenketten blitzen. Vertrackt changieren sie zwischen erotischer Phantasie und Albtraum.
Das Private ist politisch
Unverblümt entfalten auch ihre freizügigen Zeichnungen eine queere Poesie der Körper. Sichtbar wird diese zarte, homoerotische Welt nur, wenn man den Lichtstrahl der bereitliegenden Taschenlampe über die Konturlinien der gravierten Plexiglasscheiben wandern lässt. Das Private ist politisch: Die sechs Künstlerinnen aus Indien zeigen, dass diese feministische Erkenntnis noch lange nicht ausgedient hat.