
Für manchen ist sie eine Bürde, für andere wiederum Identitätsanker und ein Ort des Aufgehobenseins. Die Familie ist zur Projektionsfläche für allerhand Bedürfnisse geworden. Vielleicht, weil sich ihr Gefüge mit der Industrialisierung, erst recht aber durch die Globalisierung und weltweite Migration so stark verändert hat, dass sie eher zum Ideal als zur gelebten Realität geworden ist. Wer stirbt heute schon noch in dem Haus, in dem er oder sie geboren ist?
Info
Global Family
Regie: Melanie Andernach und Andreas Köhler,
88 Min., Deutschland 2018;
mit: Ali Ibrahim Shash, Yasmin Ibrahim Ali, Yusra Ibrahim Ali
Exil in aller Welt
Auch wenn einige von ihnen heute in Europa leben, ein anderer Familienzweig in Kanada und ein weiterer in Äthiopien beheimatet ist. Doch als die fast 90-jährige Großmutter Imra aus ihrem Exil in Addis Abeba nach Europa kommen will, bringt das ihre Kinder und Enkel an ihre Grenzen. Von dem – nicht von Erfolg gekrönten – Ringen um eine Lösung erzählt der Dokumentarfilm „Global Family“.
Offizieller Filmtrailer OmU
Arbeitslose Fußballlegende
Die charismatische Mittdreißigerin Yasmin hat es noch am besten getroffen. Sie ist zugleich das emotionale Zentrum dieses Familienporträts. Mit ihren Kindern lebt sie in Deutschland und hat immerhin so viel zum Leben, das sie ihren Angehörigen davon noch etwas abgeben kann. Ihre Verwandten haben weniger Glück. Ihr ebenfalls in Deutschland gelandeter Vater Captan Shaash ist seit Jahren arbeitslos. Vom sozialen Status, den er in seiner alten Heimat als Fußballlegende und Polit-Aktivist noch heute genießt, ist in seinem deutschen Leben wenig zu spüren.
Sein Bruder lebt ganz prekär in Italien, ohne Arbeit und festen Wohnsitz, und träumt von einer Karriere als Musiker. Ein weiterer Bruder kümmert sich um Oma Imra – aber nicht ganz so, wie es sich der Rest der Familie wünscht. Yasmin, ihre Kinder und ihr Vater reisen nach Äthiopien, um sich vor Ort ein Bild von der Situation zu machen.
Rassistisch motivierter Brandanschlag
Die Regisseure Melanie Andernach und Andreas Köhler – letzterer arbeitete bisher als Kameramann – wählen für ihr dokumentarisches Debüt einen Zugang, der sich auf das Zwischenmenschliche konzentriert. Ihren Protagonisten geben sie viel Raum, aus ihrem Leben, vor allem aber von ihrem Alltag zu erzählen. Doch die Filmemacher vertrauen zu sehr darauf, dass sich die Geschichte von selbst erzählt. Es fehlt an Stringenz, etwas mehr Verdichtung hätte dem Film gut getan.
Hintergrund
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Identität im globalisierten Dasein
Spannend ist, wie Yasmins Äthiopien-Aufenthalt das Selbstverständnis der jungen Frau ins Wanken bringt. Definierte sie sich in Deutschland noch stark über ihren afrikanischen Hintergrund, merkt sie in Addis Abeba, wie „deutsch“ sie mittlerweile tickt. Identität ist eben doch ein fluides Konzept.
Letztlich aber lässt die Sozialstudie offen, wie viel Identität eine Familie in unserer globalisierten Gegenwart noch stiften kann. Der Film vermittelt durchaus Anstöße, über scheinbar Selbstverständliches nachzudenken. Zugleich bleibt der Eindruck, dass das Potential dieser besonderen Familiengeschichte nicht ausschöpft wurde.