
Märchen? Horrorfilm? Liebesgeschichte? Sozialdrama? Es ist nicht leicht, „Gute Manieren“ einem Genre zuzuordnen. Doch das brasilianische Regie-Duo Juliana Rojas und Marco Dutra will sich auch gar nicht festlegen: Ihr Film vereint viele Elemente und spielt selbstbewusst mit Filmzitaten und unseren Sehgewohnheiten.
Info
Gute Manieren
Regie: Juliana Rojas und Marco Dutra
135 Min., Brasilien/ Frankreich 2017;
mit: Isabél Zuaa, Marjorie Estiano, Miguel Lobo;
Ungenierter Reichtum
Die junge Krankenschwester Clara (Isabél Zuaa) hat ein Vorstellungsgespräch in einem Apartmentkomplex in Downtown São Paulo. Nach Anmeldung und Überprüfung werden der jungen schwarzen Frau nach und nach die mehrfach gesicherten Türen geöffnet. Wer hier wohnt, der braucht Schutz von außen, denn der Reichtum, der hier ungeniert zur Schau gestellt wird, steht in krassem Kontrast zu anderen Vierteln der Millionenmetropole, in der viele Einwohner in ärmlichen Verhältnissen leben müssen.
Offizieller Filmtrailer
Das andere Ende der Gesellschaft
Mit dem Personalaufzug darf Clara schließlich nach oben fahren und wartet in dem schicken Apartment von Dona Ana (Marjorie Estiano), bis sie empfangen werden kann. Mit ruhigem, festen Blick nimmt Clara die große Wohnung und den atemberaubenden Ausblick auf São Paulo auf. Sie wohnt am Ende der Aussicht, in der Peripherie: am anderen Ende der Gesellschaft.
Es wird deutlich, dass hier zwei extreme Gegenpole aufeinandertreffen: Ana und Clara stehen für zwei Vertreterinnen der brasilianischen Gesellschaft, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Soziale Klassenunterschiede sind in Brasilien immer noch allgegenwärtig und bestimmen Alltag und Miteinander auf Schritt und Tritt.
Von der Familie verstoßen
Dona Ana benötigt Hilfe. Die junge Frau vom Land ist nach einem One Night Stand mittlerweile hochschwanger und wurde von ihrer Familie verstoßen. Die Tochter aus gutem Hause taucht in der Großstadt unter und will noch einmal von vorne anfangen. Doch mit einem selbständigen Leben tut Ana sich schwer. Sie, die stets Bedienstete hatte, kann eigentlich nichts und benötigt für alle Dinge des Lebens Rat und Unterstützung.
Clara erweist sich als geduldig und patent und lässt sich von Anas Launen und ihrer herrischen Art nicht abschrecken. Die beiden Frauen nähern einander an, lernen sich verstehen. Ganz langsam entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Ana verändert sich mit voranschreitender Schwangerschaft allerdings immer mehr: Etwas Animalisches bricht in ihr durch, sie wird immer wilder. Ana entwickelt einen rasenden Heißhunger auf Fleisch und beginnt bei Vollmond zu Schlafwandeln. Wie in Trance streift sie durch die nächtliche Stadt und trinkt Blut von streunenden Tieren. Clara weiß genug von Werwölfen, um zu begreifen, dass Ana kein normales Baby erwartet.
Eine monströse Geburt
„Gute Manieren“ ist wunderschön fotografiert und zieht den Zuschauer in seiner ersten Hälfte zunehmend in seinen Bann. Plot, Atmosphäre und Stimmung erzeugen die prickelnde Spannung eines guten Thrillers. Das moderne Thema bettet sich hervorragend in die märchenhafte Fabel ein und bewirkt eine reizvolle Verfremdung. Eine gezeichnete Comic-Rückblende ergänzt den Film auf fantasievolle Weise. Das kreative Konzept geht auf.
Hintergrund
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Die Probleme wachsen
Clara, die sich aus Liebe zu Ana des kleinen Monsters angenommen hat, kümmert sich liebevoll und sorgfältig um das fremdartige Kind. Doch je älter der kleine Joel wird, umso größer werden die Probleme, die Clara bewältigen und verheimlichen muss. Als Joel schließlich das Geheimnis seiner Herkunft lösen will, gerät die Situation außer Kontrolle.
So stark die erste Hälfte des Filmes ist, so befremdlich mutet der Teil um den heranwachsenden Werwolf an. Da der Spannungsbogen der Geschichte bereits erschöpft ist, zieht sie sich nun in die Länge. Was bisher reizvoll war, geht nicht mehr auf: Soll der junge Werwolf nun gruselig oder eher anmutig sein? Diese Unentschiedenheit lässt den Film immer trashiger wirken. Juliana Rojas und Marco Dutra wollten wohl doch etwas zu viel in einen einzigen Film packen.