
Es ist Deutschlands größter Museumsneubau seit Jahren: Die Kunsthalle Mannheim erfindet sich mit einer fulminanten Erweiterung komplett neu. 150.000 Besucher will Direktorin Ulrike Lorenz jährlich in ihren 68 Millionen Euro teuren Kubus locken. Dazu hat sie ihre hundertjährige Sammlung beherzt neu aufgemischt und einer radikalen Bestandsaufnahme unterzogen.
Info
Neueröffnung der
Kunsthalle Mannheim
ab 01.06.2018 mit:
Jeff Wall - Appearance
02.06.2018 - 09.09.2018
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
in der Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4
Ein Ort der Moderne
Auf Dauer aber möchte man die strahlenden Highlights der Sammlung von Franz Marc bis Max Beckmann nicht lediglich als dokumentarische Belege für das menschen- und kunstverachtende Gebaren der NS-Zeit präsentiert sehen. Immerhin hat Mannheim als Ort der Moderne Tradition: Hier wurde 1925 mit der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ Kunstgeschichte geschrieben. Auch daran erinnert eine Sonderpräsentation, die allerdings etwas lustlos ausfällt. Sie reiht die üblichen Verdächtigen von Alexander Kanoldt bis Otto Dix aneinander.
Feature zur Kunsthallen-Neueröffnung; © masterpress PresseFOTO Service
Tarnkappen-Museum
Den opulenten Neustart komplettiert eine Soloschau des weltberühmten Fotokünstlers Jeff Wall. Seine perfekt inszenierten Alltagsmomente passen ideal in die etwas aseptischen Räume des Neubaus. Die klassischen Gemäldeformate des 19. und 20. Jahrhunderts haben es hier schwerer: Sie fremdeln noch.
Aber den Hauptauftritt hat fürs Erste ohnehin die Architektur. Ins Quadratraster der barocken Idealstadt Mannheim fügt sich der Neuzugang überraschend unscheinbar ein. Böse Zungen vergleichen den Entwurf des renommierten Hamburger Büros Gerkan, Marg und Partner (gmp) mit einem Parkhaus. Denn der Kubus hat sich eine bräunliche Vorhängefassade aus Metallgeflecht übergeworfen wie eine Tarnkappe.
Zur Stadt hin offen
Umso umwerfender ist das Raumerlebnis, wenn man ins Innere tritt. Um ein 22 Meter hohes, klinisch weißes Forum gruppieren sich auf drei Geschossen die unterschiedlichsten Raumtypen: Treppen, Brücken, große Boxen, breite Passagen und viel offener Raum. Wohin zuerst? Ein Rundgang wird in dem klaren, lichtdurchfluteten Raumgefüge nicht vorgegeben – und das ist Programm.
Unwillkürlich setzt man sich in Bewegung. Die Besucher schauen um die nächste Ecke, erklimmen die Treppen, stellen Blickbezüge und Querverbindungen her. Immer ist der städtische Außenraum durch große Fensterflächen präsent und bleibt als gedankliche Folie mit im Spiel. Nicht Abschotten, sondern Öffnen lautet auch hier das Motto. Freiluftterrassen und vollverglaste Etageren laden zum Durchatmen ein. Dann wieder konzentriert sich die Wahrnehmung in geschlossenen Kuben.
Essayistische Themenräume
Den klassischen „Gänsemarsch der Stile“ erklärt Direktorin Ulrike Lorenz für obsolet. Sie packt Caspar David Friedrich zu Anselm Kiefer, mixt Thomas Hirschhorns trashige Installationskunst mit einer Otto-Freundlich-Skulptur von 1934/35. Nur fünf Werke pickte sie sich für ihren Themenraum „Jahrhundertschritt“ heraus: Den rasant voranstürmenden Futurismus einer Boccioni-Skulptur bremst der Horror des Ersten Weltkriegs aus, verkörpert durch Gasmaske und Stahlhelm auf einer Graphik.
Eine Videoskulptur von Nam June Paik hingegen denkt die Technikeuphorie der frühen Moderne weiter. Knappe Raumtexte stellen die Gedankenbögen her. Im nächsten Saal treten figürliche Skulpturen locker in Gruppen zueinander, wie Zufallsbekanntschaften beim ersten Kennenlernen. Die Körper der Besucher bewegen sich auf Augenhöhe hindurch.
Appetithappen umsonst
Stiller geht es im klassischen Malersaal bei den Romantikern, Impressionisten und expressionistischen Brücke-Künstlern zu. In ihren üppigen Goldrahmen wirken sie wie Fremdkörper vor den weißen Wänden. Sie müssen sich neu behaupten, dem kritischen Blick standhalten – ob Kirchners wilde Pinselei, Anselm Feuerbachs schöne, starke Frauen oder die Blumenbouquets von Renoir.
Jährlich will Ulrike Lorenz ihre Dauerausstellung verändern. Noch flotter wechselt das Angebot in der „Box“ im Erdgeschoss. Hier bekommen alle paar Wochen junge Künstler einen Soloauftritt, wie derzeit Christian Falsnaes mit seinem lustig-exaltierten Mitmachvideo „Video Artist“. Für diese Appetithappen braucht man nicht einmal Eintritt zu zahlen.
Gedrängt bis unter die Decke
Denn das große Lichtatrium der Kunsthalle gibt‘s kostenlos: Schwellenlos und ebenerdig geht es hinein in dieses Museum. Die Füße spüren kaum, dass sie nicht mehr das Straßenpflaster treten, sondern den harten, glatten Betonboden des Museums. Kein nobles Parkett, kein gedämpftes Licht.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Jeff Wall in München" - umfangreiche Werkschau in der Pinakothek der Moderne, München
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Das nackte Leben: Bacon, Freud, Hockney und andere - Malerei in London 1950–80" zur Neueröffnung des Erweiterungsbaus im LWL Museum für Kunst und Kultur, Münster
und hier eine Besprechung der "Wiedereröffnung des Museum Berggruen" nach Erweiterung für die Sammlung der Klassischen Moderne in Berlin
und hier ein Bericht über die "Wiedereröffnung der Neuen Galerie" - Museum für Kunst des 19. + 20. Jahrhunderts sowie documenta-Schauräume in Kassel.
Großinstallationen im Lichttfoyer
Im großen Lichtfoyer tickt derweil die Zeit: Wie ein Damoklesschwert schwingt eine riesige Uhr hoch oben über den Köpfen. Ein wuchtiger Gesteinsbrocken hält sie im Gleichgewicht. Alicja Kwades luftige Intervention „Die bewegte Leere des Moments“ entfaltet wunderbar ihre Wirkung in diesem weiten und hohen Raum. Ohne Angst darunter zu verweilen, die verfliegende Zeit zu spüren und ruhig weiterzugehen, ist eine Erfahrung für sich.
Geschickt gelingt es Direktorin Lorenz ihrer 100 Jahre alten Sammlung durch solche gewichtigen Neuerwerbungen und Dauerleihgaben eine Frischzellenkur zu verpassen. So setzen Großinstallationen von Rebecca Horn, Martin Hohnert und William Kentridge wirkungsvoll Zäsuren. Max Ernsts großartige Skulpturengruppe „Capricorn“ dagegen schrumpft im Riesenraum des Atriums wirkungslos in sich zusammen. Schade drum.
Erschießung im eigenen Raum
Das absolute Spitzenstück der Sammlung aber geht als Sieger aus der kuratorischen Radikalkur hervor. Edouard Manets monumentale „Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko“ bekam einen Raum für sich. Davor bäumt sich raumhoch eine begehbare Tribüne der Amerikanerin Rita McBride auf. Wer hier Platz nimmt, findet sich unversehens als Voyeur der brutalen Liquidierung entlarvt, die Manet nach Zeitungsnotizen und Fotos malte. Der Rauch aus den langschäftigen Gewehren des Erschießungskommandos hängt noch in der Luft. Hinten im Bild gaffen Schaulustige sensationslüstern über die Mauer: Nicht anders als der Betrachter vor dem Bild, dem Manet das Geschehen unnachahmlich nüchtern serviert.