Wer beim Begriff Märchen zuerst an Disney denkt, unterschätzt die Möglichkeiten einer Form des Geschichtenerzählens, die nicht umsonst Autoren wie die Gebrüder Grimm inspiriert hat. Ein modernes Märchen ist auch Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“, der in diesem Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes im Wettbewerb für Furore sorgte. Lange Zeit schien der Film Topfavorit auf die Goldene Palme zu sein, wurde dann aber merkwürdigerweise nur mit einem Nebenpreis ausgezeichnet.
Info
Glücklich wie Lazzaro
Regie: Alice Rohrwacher,
129 Min., Deutschland/ Frankreich/ Italien/ Schweiz 2018;
mit: Adriano Tardiolo, Luka Chikovani, Alba Rohrwacher
Konsequente Ausbeutung
Irgendwo im ländlichen Italien, zu unbestimmter Zeit. Lazzaro (Adriano Tardiolo) ist Knecht auf einem Hof und dort so etwas wie das Mädchen für alles. Egal, ob die Großmutter ins Haus getragen werden soll, Hühner eingefangen werden müssen, Kisten geschleppt werden oder eine andere Aufgabe zu erledigen ist, stets wird Lazzaro gerufen. So wie er von den anderen Mitgliedern seiner Sippe ausgenutzt wird, so wird auch die Sippe als Ganzes ausgebeutet: Die Leute glauben, dass sie noch zur Zeit der Leibeigenschaft leben und ihrer Gräfin gehören. Als dieser Betrug aufgedeckt wird, finden sie sich auf einmal in der Moderne wieder.
Offizieller Filmtrailer
Die Zeit steht still
Vom ersten Bild an durchzieht Alice Rohrwachers dritten Spielfilm eine magische, unwirkliche Atmosphäre. Gefilmt im altmodischen Super-16mm-Format, das den Bildern eine weiche, malerische Kontur verleiht, etabliert der Film eine zeitlose Welt, in der erst nach und nach verschiedene Gegenstände andeuten, in welcher Zeit sich die Geschichte gerade befindet: Erst deutet ein altmodisches Motorrad auf die 70er-Jahre, bald folgt ein Walkman, der denken lässt, es seien die 80er, schließlich verweist ein frühes Handy-Modell auf die 90er-Jahre.
Für die Bewohner der abgelegenen Häuser scheint die Zeit dagegen still zu stehen: Sie schuften und bekommen regelmäßig Besuch von einem Verwalter, der ihre Produkte abholt und mit gelieferten Gütern verrechnet – so dass ihre Schulden nie kleiner werden. Es ist eine wahre Episode, die Rohrwacher zu ihrem Film inspirierte: die Geschichte einer Gräfin, die auch nach der Abschaffung der Leibeigenschaft einfach weitermachte, als wäre nichts geschehen.
Hungerlöhne
Ein Leben außerhalb der Knechtschaft war für ihre Arbeiter wohl ebenso wenig vorstellbar, wie nun für die Figuren im Film, die kaum begreifen können wie ihnen geschieht, als die Polizei sie aus ihrem Joch befreit. Der einzige, der von den Ereignissen seltsam unberührt erscheint, ist Lazzaro, der wie sein biblisches Namensvorbild stirbt und wieder aufersteht. Und der wie ein gutmütiger Tor mit stets freundlichem Blick durch die Welt geht und alle Bürden gleichmütig erträgt.
In einer Szene gerät der durch die Stadt stromernde Lazzaro in eine Gruppe Tagelöhner. Erntehelfer für die Olivenernte werden gesucht, und der Vermittler beginnt eine Art Auktion: Vier Euro die Stunde! Wer bietet weniger? Immer weiter unterbieten sich die Arbeitsuchenden, bis der Preis auf einen Euro gefallen ist. Ein Hungerlohn, von dem niemand leben kann – aber wen kümmert es?
Glücklicher Fremdkörper
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Meine Tochter – Figlia Mia" - provokantes italienisches Familien-Drama von Laura Bispuri
und hier einen Bericht über den Film "Fridas Sommer" - sensibles Familien-Drama von Carla Simón
Nicht zuletzt, weil Lazzaro völlig alterslos bleibt, was ihn in der Moderne noch stärker als Fremdkörper wirken lässt. Dass man sich Lazzaro trotz allem als glücklichen Mensch vorstellen darf, macht die ganze Tragik dieses außerordentlichen Films aus, der wie die besten Märchen eine fantastische Geschichte dazu benutzt, um von der Gegenwart zu erzählen.