
Gleich zu Beginn wird man ins komplexe Geflecht einer spanischen Großfamilie geworfen. Zunächst einmal muss man sich zwischen all den Namen und Gesichtern orientieren: Aus Anlass von Anas Hochzeit (Inma Cuesta) versammeln sich die Verwandten aus nah und fern in einem beschaulichen Dorf, um das herum üppig der Wein gedeiht.
Info
Offenes Geheimnis (Everybody Knows)
Regie: Asghar Farhadi
123 Min., Spanien/ Frankreich/ Italien 2018;
mit: Penélope Cruz, Javier Bardem, Ricardo Darín
Tochter wurde entführt
Auch Paco (Javier Bardem), ein Freund der Familie und früherer Liebhaber Lauras, ist zur rauschenden Feier eingeladen. Die Menschen sind schön, die Tische opulent gedeckt und die Musik schmachtend. Das Fest schreitet ausgelassen voran, selbst ein Wolkenbruch und ein Stromausfall können der überbordenden Fröhlichkeit nichts anhaben. Die Stimmung kippt, als Laura plötzlich feststellt, dass ihre Tochter verschwunden ist. Schnell stellt sich heraus, dass Irene entführt wurde – 300.000 Euro Lösegeld müssen aufgebracht werden.
Offizieller Filmtrailer
In spanische Kultur eingetaucht
Indem Asghar Farhadi Irene auf so abrupte Weise aus dem Spiel nimmt, zieht er einen Baustein aus dem familiären Gefüge, das nun mächtig zu knirschen beginnt. Der sich entspinnende Kriminalfall gibt Anlass, um die persönlichen Verhältnisse zu sezieren. Wer hinter der Entführung steckt, ist dabei nebensächlich. Ohnehin ist schnell klar, dass es nur jemand aus dem engsten Kreis sein kann. Amouröse und finanzielle Verwicklungen erweisen sich als die Triebfedern der Geschichte. Das im Titel angesprochene Geheimnis hingegen liegt auch für die Zuschauer bald auf der Hand. Dass es im Zeitalter der Patchworkfamilien noch eine so zerstörerische Macht entfalten kann, wirkt allerdings etwas unglaubwürdig.
Wie die meisten Filme des Ausnahmeregisseurs ist „Offenes Geheimnis“ ein fein austariertes, psychologisches Kammerspiel, in dem alle Hauptfiguren schuldhaft miteinander verstrickt sind. Nach „Le Passé“ (2013) ist es der zweite im Ausland entstandene Film Farhadis und der erste, der keinerlei Bezug zum Iran aufweist. Es war offenbar Farhadis Ehrgeiz, tief in die spanische Kultur einzutauchen – was ihm zweifelsohne gelungen ist.
Komplexe Abgründe
Das ist einerseits beeindruckend, andererseits geht damit eine spezifische Note verloren. Farhadis iranische Arbeiten handeln ebenfalls von den komplexen Abgründen menschlicher Beziehungen, sie haben darüber hinaus jedoch auch eine starke gesellschaftliche Dimension. So etwa im Vorgänger „The Salesman“ (2016), der anhand einer persönlichen Tragödie von den bröckelnden Fundamenten der iranischen Gesellschaft und der Beziehungslosigkeit zwischen den verschiedenen sozialen Milieus berichtet.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Salesman" - fesselndes Vergewaltigungs-Drama von Asghar Farhadi
und hier einen Bericht über den Film „Le Passé – Das Vergangene“ – Beziehungs-Drama mit Tahar Rahim von Asghar Farhadi
und hier einen Beitrag über den Film „Nader und Simin – eine Trennung“ – Oscar-prämiertes Meisterwerk über eine Ehekrise von Asghar Farhadi
Glänzende Schauspieler
Im Vergleich zu den Vorgängerfilmen wirkt „Offenes Geheimnis“ glatter, der Stachel geht nicht ganz so tief unter die Haut. Insgesamt ist der Film ein perfekt inszeniertes Arthouse-Produkt: Das Schauspielensemble um das Ehepaar Cruz-Bardem glänzt bis in die Nebenrollen, oft genügen Blicke, um eine ganze Gefühlspalette in Sekunden aufblitzen zu lassen. Und Kameramann José Luis Alcaine setzt die Geschichte in erdfarbenen, wunderbar sinnlichen Bildern in Szene.
Wollte man eine Botschaft aus Farhadis Schaffen ziehen, dann wohl diese: Seid offen zueinander, vertraut euch einander an, gerade auch im Schmerz. Denn Geheimnisse wirken sich meist zerstörerisch aus.