Ein strahlend blauer Himmel, der am Horizont in eine gleißende weiße Fläche übergeht, füllt die Leinwand komplett aus. Dann schieben sich allmählich vom rechten Rand ein Hund, ein Schlitten und ein in Fellen gekleideter Mensch ins Bild. Mensch und Tier wirken winzig im Vergleich zum Raum, den sie durchqueren. Immer wieder kommen in Milko Lazarovs Spielfilm „Nanouk“ solche bildgewaltigen Totalen zum Einsatz, die Mensch und Raum in ein nahezu kosmisches Verhältnis setzen. Der einzelne Mensch in der weiten Eistundra Jakutiens wirkt ähnlich verloren wie die Erde im Weltall.
Info
Nanouk
Regie: Milko Lazarov,
96 Min., Frankreich/ Deutschland/ Bulgarien 2018;
mit: Mikhail Aprosimov, Feodosia Ivanova, Galina Tikhonova
Ein unbekanntes Dasein
Tag für Tag ringen sie der rauen Natur ihr Überleben ab. Nanouk ist ständig draußen zum Eisfischen oder Fallenstellen, während Sedna die häuslichen Dinge in der Jurte besorgt. Doch die Tiere bleiben zunehmend weg, die Fische werden weniger, und der Frühling beginnt jedes Jahr früher. Kondensstreifen der Flugzeuge im stahlblauen Himmel künden Nanouk von einem ihm gänzlich unbekannten Leben, an das er seine einzige Tochter Ága (Galina Tikhonova) verlor.
Offizieller Filmtrailer
Visionen eines Kreislaufs
Sie zog vor Jahren in die Stadt. Über ihre Motive erfährt man nichts, aber vermutlich suchte sie eine andere Existenz als die ihrer Eltern. Die beiden sind darüber erbittert, sehnen sich aber gleichzeitig nach dem verlorenen Kind. Sie sind bereit zu verzeihen. Ab und zu berichtet ihnen ein junger Mann aus der Stadt (Sergey Egorov) von ihr. Ága soll nun in der Diamantenmine arbeiten. Viel Zeit zur Versöhnung bleibt nicht mehr, denn Sedna ist schwer krank.
Trotz der Härte ihrer Lebensumstände wirken die beiden aufgehoben in ihrer Welt, ja sie scheinen geradezu eins zu sein mit ihrer Umgebung und ihrer Art zu leben. Da ist kein Hadern oder Hinterfragen spürbar, es ist wie es eben ist. Dabei sind diese Menschen keineswegs simpel gestrickt: So erzählt Sedna eines Tages einen Traum, besser gesagt eine Vision, die Anfang und Ende des Lebens in eine sehr poetische Geschichte kleidet.
Nicht aus der Ruhe zu bringen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Chamissos Schatten" – zwölfstündige Doku über "Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln" von Ulrike Ottinger
und hier einen Bericht über den Film "Der Mann aus dem Eis" - Rekonstruktion von Ötzis Leben von Felix Randau
und hier einen Beitrag über den Film “How I ended this summer” – brillantes Psycho-Duell auf russischer Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären 2010
Aufgrund seiner dokumentarisch-nüchternen Erzählweise umgeht Lazarov auch die Fallen des Ethnokitsches. Dabei ist das Erzähltempo dem Alter der Figuren entsprechend langsam. Nanouk und Sedna haben Zeit, und so dehnen sich oft auch die Filmminuten. Einzig ein Sturm, der ihnen fast die Jurte wegweht, reißt sie aus ihrer unerschütterlichen Ruhe. Trotz der Fremdheit ihrer Lebensweise berührt dieser poetisch-meditative Film in vielen Momenten.
Konstanten des Lebens
Schließlich sind die Liebe, die Familie und der Tod universale Konstanten der menschlichen Existenz. Am Schluss verlässt Nanouk die eisige Einöde und begibt sich auf den Weg zur Diamantenmine Udatschnaja. Ein gigantischer, über 500 Meter tiefer Krater tut sich mitten in der Tundra auf – ein gewaltiges Bild dafür, was Menschen der Natur antun, um so winzige Dinge wie Diamanten zu finden. Die Szenerie lässt einen sehr nachdenklich zurück.