Sage keiner, die ins Rentenalter gekommene Berlinale sei nicht mehr für Skandale gut! Als im Februar die rumänische Nachwuchs-Regisseurin Adina Pintilie für ihren Debütfilm „Touch Me Not“ mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, waren Kritik und Publikum zumeist befremdet, fast schockiert. Diese dürftige, dilettantische und über weite Strecken schlicht öde Fingerübung über Unterleibsthemen sollte der beste Beitrag in einem vergleichsweise starken Wettbewerbs-Jahrgang gewesen sein?
Info
Touch Me Not
Regie: Adina Pintilie,
125 Min., Rumänien/ Deutschland/ Tschechien/ Bulgarien 2018;
mit: Laura Benson, Tómas Lemarquis, Christian Bayerlein
Kino-Dreiecksbeziehung floppte
Tykwers Filmographie lässt allerdings ein Faible für unkonventionelles Liebesleben erkennen: 2010 drehte er „Drei“ über eine Dreiecksbeziehung. Sophie Rois und Sebastian Schipper als Eheleute hatten gleichzeitig Affären mit demselben Mann, gespielt von Devid Striesow: erst heimlich, dann in harmonischem Einvernehmen. Diese Ermunterung zu offenen Beziehungen und erotischer Toleranz krankte leider an einem arg konstruierten Plot mit papiernen Dialogen – und floppte an der Kinokasse.
Offizieller Filmtrailer
Transe gibt ihren Brüsten Vornamen
Das dürfte auch „Touch Me Not“ drohen. An der Handlung wird es nicht liegen – es gibt praktisch keine. Stattdessen einen akuten emotionalen Notstand: Die Mittfünfzigerin Laura (Laura Benson) leidet unter gestörtem Körpergefühl. Auf jede zärtliche Berührung reagiert sie mit brüsker Abwehr. Um das zu überwinden, klappert sie verschiedene Dienstleister ab.
Ein Callboy, dem sie beim Duschen und Onanieren zusieht, lässt Laura kalt. Mit der transsexuellen Escort-Prostituierten Hanna (Hanna Hofmann) plaudert sie angeregt; doch dieser Paradiesvogel, der seinen Brüsten Vornamen gibt, hilft ihr auch nicht weiter. Erst ein Körpertherapeut, der sie in Rollenspiele verwickelt, kann ihre Widerstände ansatzweise aufbrechen.
Radio-Feature mit Standbildern
Szenenwechsel: Mit Tomas (Tómas Lemarquis), der durch Haarausfall schon in Kindertagen zum Außenseiter wurde, nimmt der Film an einem „Touch-Workshop“ teil. In klinisch weißer Labor-Atmosphäre schaut die Kamera andächtig zu, wie halbnackte Normalos einander vorsichtig mit den Fingerspitzen abtasten. Samt ausführlichen Interviews mit diesen Laiendarstellern: Der an Muskelatrophie leidende Christian erzählt offenherzig vom abwechslungsreichen Sex mit seiner nicht behinderten Partnerin Grit.
All das erscheint authentisch, hat aber den Schauwert eines langatmigen Radio-Features mit Standbildern. Damit überhaupt Farbe und Bewegung auf die Leinwand kommen, schickt Regisseurin Pintilie ihre Protagonisten in einen Swinger-Club – und der Film kippt ins peinlich Bemühte. Als könnten Menschen, die vorher starke Hemmungen eingestanden haben, sich flugs bei Gruppenorgien fallen lassen und tabulos ihre Leidenschaften ausleben.
So realitätsfern wie Pornos
Hintergrund
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und hier einen Beitrag über den Auftritt der "Ökosex"-Propagandistin Annie Sprinkle auf der documenta 14 in Kassel.
Stets verfügbar ist nicht ekstatischer Sex, sondern nur seine Simulation im Internet. Wie sich solche Reizüberflutung auf Körperwahrnehmung und Balzverhalten auswirkt, wird selten thematisiert, obwohl es alle betrifft – während zugleich Debatten wie #metoo die Sensibilität für Sexismus und Kriterien des Zulässigen verschärfen. Was Regisseurin Pintilie völlig ignoriert; lieber träumt sie davon, „all das loszuwerden, das mich in meinen intimen Beziehungen, meiner Kreativität davon zurückhält, frei zu sein, zu erblühen.“
Politisch korrekter Behinderten-Sex
Sich trotz aller Defizite und Frustrationen einfach locker machen und empathisch seine Mitmenschen befriedigen? Dass das nicht so simpel ist, zeigt schon die staubtrockene Machart des Films: als verkrampft nüchterne Pseudo-Doku voller Leerlauf, Wiederholungen und manierierten Interventionen der Regisseurin, ohne jeden Hauch von Sinnlichkeit. Was daran – außer politisch korrektem Live-Sex von Behinderten – wegweisend sein soll, weiß nur Tom Tykwer.