Marcelo Martinessi

Die Erbinnen (Las Herederas)

Chela (Ana Brun, re.) lernt die lebensfrohe Angy (Ana Ivanova) kennen und ist fasziniert von ihr. Foto: © Grandfilm
(Kinostart 29.11.) Befreiung vom Klassendünkel: Zwei ältere Damen aus der Oberschicht von Paraguay verscherbeln ihr Tafelsilber. Marcelo Martinessis feinfühliges Drama über einen späten Aufbruch ist zugleich eine politische Parabel.

Durch einen schmalen Türspalt lugt Chela (Ana Brun) in ihr Wohnzimmer, wo ihre Lebenspartnerin Chiqui (Margarita Irún) einer Kaufinteressentin gerade die guten Kristallgläser anpreist. Dieser Spalt ist so eng wie Chelas Aktionsradius, der sich in erster Linie auf das ehemals prächtige Haus beschränkt. Es ist mit seinen Besitzerinnen in die Jahre gekommen. Ein verstimmtes Klavier und Wasserflecken an der Decke künden vom fortschreitenden Verfall. 

 

Info

 

Die Erbinnen

(Las Herederas)

 

Regie: Marcelo Martinessi,

95 Min., Paraguay/ Uruguay/ Brasilien/ Deutschland/ Frankreich 2018;

mit: Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova

 

Weitere Informationen

 

Im Laufe des Films wird sich der Spalt allmählich weiten, Chela wird mehr Licht und Leben hereinlassen. Doch zunächst muss sie einen herben Verlust verkraften: Wegen offener Schulden kommt die lebhafte Chiqui ein paar Wochen ins Gefängnis. Für die introvertierte Chela war sie jahrzehntelang zugleich Stütze und Bevormunderin.

 

Als lesbisches Paar akzeptiert

 

Gegen ihren ausdrücklichen Wunsch hatte Chiqui zuletzt sogar Freundinnen um finanzielle Unterstützung gebeten. Nun bröckelt die Wohlstandsfassade, und Chela fühlt sich bloßgestellt. Hingegen wird die lesbische Beziehung der beiden weder von ihnen selbst noch von ihrer Umgebung thematisiert. Ihr Paar-Status scheint akzeptiert zu sein, ohne dass darüber gesprochen wird.

Offizieller Filmtrailer


 

Qua Geburt in der Wohlstandsblase

 

Trotz der finanziellen Schwierigkeiten besteht Chela nach wie vor auf einem Dienstmädchen und dem gewohnten kleinen Luxus. Sich von ihren Erbstücken zu trennen, fällt der mädchenhaft-ängstlichen Frau schwer. Im Grunde ist sie eine alt gewordene höhere Tochter; qua Geburt auf der Sonnenseite des Lebens stehend und zum Repräsentieren erzogen. Nun wird Chela schmerzhaft mit der Realität konfrontiert.

 

Zwar erzählt „Die Erbinnen“ nichts über die Vergangenheit des Frauenpaares, doch beide scheinen ihr Leben in gepflegter Langeweile verbracht zu haben. Chela und Chiqui sind somit recht typische Vertreterinnen der lateinamerikanischen Oberschicht, die sich in ihrer Wohlstandsblase bequem eingerichtet haben – so lange wie es eben geht.

 

Parabel auf das Erbe der Diktatur

 

Die großen sozialen Probleme ihres Landes – ein Resultat der extrem ungleichen Besitzverhältnisse – blenden sie dagegen aus. Konsequenterweise verortet der Film seine Geschichte nur sehr rudimentär in Raum und Zeit. Allenfalls ein Mobiltelefon verrät, dass wir uns in der Gegenwart befinden.

 

Die innere Abschottung der Figuren wirkt zugleich wie eine Parabel auf die erstickenden politischen Verhältnisse Paraguays. Von 1954 bis 1989 lag die Herrschaft des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner (1912-2006) wie eine bleierne Decke über dem dünnbesiedelten Land.

 

Zartes Pflänzchen Filmindustrie

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Liebhaberin" - groteske Sozialsatire über Nudisten-Swinger in Argentinien von Lukas Valenta Rinner

 

und hier eine Besprechung des Films "Carol" - ergreifendes lesbisches Liebesdrama in den 1950er Jahren von Todd Haynes mit Cate Blanchett

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der Sommer mit Mamã - Que horas ela volta?" - sehr charmante Dienstmädchen-Tragikomödie aus Brasilien von Anna Muylaert

 

und hier einen Bericht über den Film "Gloria" – hinreißendes Porträt einer 58-jährigen Chilenin von Sebastián Lelio, prämiert mit Silbernem Bären 2013.

 

Seit seiner Entmachtung geht es in Paraguay einen Schritt vorwärts und zwei zurück. 2012 wurde der linksgerichtete Präsident Fernando Lugo unter ominösen Umständen seines Amtes enthoben; seitdem ist Stroessners alte Colorado-Partei wieder an der Macht. Der jahrzehntelange gesellschaftliche Stillstand hatte auch Auswirkungen auf die dortige Filmindustrie: Es wurde lange Zeit so gut wie nicht gedreht.

 

Erst seit rund 20 Jahren entstehen überhaupt wieder Filme in Paraguay. Dabei gibt es im ganzen Land – so groß wie Deutschland und die Schweiz zusammen, aber mit nur sieben Millionen Einwohnern – ohnehin nur um die 50 Kinoleinwände. Vor diesem Hintergrund erhält der Silberne Bär der Berlinale 2018 für das subtile Spiel von Hauptdarstellerin Ana Brun umso größeres Gewicht.

 

Taxifahren als Katalysator

 

Der politischen Lage zum Trotz gönnt Marcelo Martinessi seiner zögerlichen Protagonistin einen Aufbruch. Während Chiqui im Gefängnis sitzt, bittet die Nachbarin Pituca (herrlich schrullig: María Martins) Chela um einen Fahrdienst. Obwohl sie gar keinen Führerschein hat, chauffiert sie bald regelmäßig Damen aus der Nachbarschaft in ihrem alten, grünen Mercedes zu diversen Terminen.

 

Chela findet Gefallen an dieser neuen Tätigkeit. Zumal auf diese Weise die sinnliche Angy (Ana Ivanova) in ihr Leben tritt. Die junge, lebenslustige Frau weckt ein längst verschüttet geglaubtes Begehren in Chela. Danach ist nichts mehr so, wie es lange Zeit gewesen ist. Und es wird auch nie mehr so sein.