Mission Impossible: Wie soll man bloß das Leben von Philosophen verfilmen? Also von Leuten, die normalerweise ihr Dasein an Schreibtischen in Bibliotheken fristen? Dort studieren sie Texte, denken darüber nach und verfassen andere Texte. Wenn sie Professoren sind, halten sie zuweilen Vorträge oder Seminare in nüchternen Hörsälen ab. Meist viele Jahre lang; im besten Fall entsteht dabei so etwas wie eine neue Sicht auf die Welt.
Info
Hans Blumenberg –
Der unsichtbare Philosoph
Regie: Christoph Rüter,
102 Min., Deutschland 2018;
mit: Burkhard Lütke Schwienhorst, Klaus Schölzel, Dr. Rüdiger Zill
Star-Vordenker ohne Lehrgebäude
Zurecht nennt ihn Regisseur Christoph Rüter im Untertitel seiner Doku: „Der unsichtbare Philosoph“. Dem nachzuspüren sich trotzdem lohnt: Auf seine Weise war Blumenberg ein Star-Vordenker der alten Bundesrepublik. Ohne ein Lehrgebäude zu konstruieren, das sich auf eingängige Kernthesen reduzieren ließe, wie etwa Niklas Luhmanns Systemtheorie oder die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Ebenso wenig mischte er sich wie Habermas in aktuelle politische Debatten ein.
Offizieller Filmtrailer
Virtuoses Jonglieren mit Riesen-Fundus
Doch Blumenbergs Reflexionsstil beeindruckte viele: Bestechend präzise analysierte er Begriffe und Metaphern aus 2500 Jahren Philosophie; damit gewann er ihnen allerhand überraschende Einsichten ab. Das war weit mehr als gelehrte Geistesgeschichte; eher ein virtuoses Jonglieren mit Argumenten aus dem Riesen-Fundus des abendländischen Denkens. Da kommt eines zum anderen, die Sache droht uferlos zu werden – und nimmt dann verblüffende Wendungen.
Auch Regisseur Rüter, der mehr als ein Dutzend Dokus über Kulturbetriebs-Berühmtheiten gedreht hat, ist bekennender Blumenberg-Fan. Er nähert sich dem großen Unsichtbaren mit einem so simplen wie wirkungsvollen Kunstgriff: indem er zwei Blumenberg-Schüler und einen -Forscher auf Deutschlandreise schickt. Burkhard Lütke Schwienhorst betreibt heute eine Werbeagentur, Klaus Schölzel fährt Taxi, und Rüdiger Zill arbeitet am „Einstein Forum“ in Potsdam. In einem Kleinbus fahren sie gemeinsam dem Lebensweg des Philosophen nach und besuchen diverse Blumenberg-Kenner.
Gott fürchtet eigene Schöpfung
Der Hochbegabte legte 1939 in Lübeck das beste Abitur in ganz Schleswig-Holstein ab, durfte aber als „Halbjude“ die traditionelle Ansprache nicht selbst halten. Das übernahm ein Freund, der Blumenbergs Redetext vorlas; darin verpflichtete er ausgerechnet die rassistischen Nazis, das Erbe des Humanismus zu bewahren. Ähnlich kühn sollte er später den alttestamentarischen Salomo-Spruch umdeuten, der in der Aula seines Gymnasiums prangte. „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ interpretierte er als Furcht Gottes vor seiner eigenen Schöpfung – Angst als Stimulans für Klugheit.
Nach diesem Muster verbindet Regisseur Rüter geschickt Ortstermine mit zentralen Motiven aus Blumenbergs Arbeiten. In der Altstadt von Lübeck zeigt seine Tochter Bettina, Dozentin an der Münchener Akademie der Bildenden Künste, dem Trio ein unscheinbares Haus. Auf seinem Dachstuhl musste sich ihr Vater vor Kriegsende fast ein Jahr lang verstecken, um den NS-Häschern zu entgehen. Von ihnen bemerkt zu werden, wäre sein Todesurteil gewesen.
Segensreiches Vergessen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der junge Karl Marx" – hervorragendes Biopic über den Philosophen von Raoul Peck mit August Diehl
und hier eine Besprechung des Films "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin von Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa
und hier einen Bericht über den Film "Alles was kommt – L’Avenir" – Lebensdrama einer Philosophie-Lehrerin von Mia Hansen-Løve mit Isabelle Huppert
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Bodenlos – Vilém Flusser und die Künste" - prätentiös überfrachtete Schau zum Lebenswerk des Medientheoretikers in Karlsruhe + Berlin.
Allerdings vermeidet Regisseur Rüter eine flache Gleichsetzung von Leben und Werk. Im Gegenteil: Gespräche mit Blumenberg-Experten werden zu geistigen Höhenflügen für aufmerksame Zuhörer. So erklärt etwa der Theologe Philipp Stoellger, welcher Segen im Vergessen liege. Nur wer Vergangenes fallen lasse, könne sich Künftigem zuwenden und Neues erfinden: „Nicht vergessen zu können, ist die absolute Hölle – ein overkill der memoria.“ Solche komplexen Überlegungen erfordern minutenlanges konzentriertes Lauschen.
Nach Doku zum Buch greifen
Dennoch wird der Film nie eintönig; dafür sorgen häufige Stationswechsel und drei Laien-Hauptdarsteller, die sich in lebhaften Dialogen die Bälle zuspielen. Ihre Begeisterung für Blumenbergs Themen und Thesen wirkt ansteckend – und damit für Philosophie an sich. Sie hat in den letzten 30 Jahren enorm an Ansehen und Bedeutung verloren, weil sie keine Produkte und Profite hervorbringt; zurzeit gelten nur die technischen MINT-Fächer als sinn- und wertvoll.
Menschen denken aber nicht in binären Zeichenketten; sie können sich nur in gewöhnlicher Sprache über sich selbst und ihre Stellung in der Welt bewusst werden. Das lehrt sie die Philosophie, was Regisseur Rüter anschaulich vorführt. Sein Film macht große Lust, im Anschluss sofort ein Blumenberg-Buch zu lesen – was ließe sich Besseres über diese Doku sagen?