München

Jörg Immendorff: Für alle Lieben in der Welt

Jörg Immendorff: „Café Deutschland I“, 1978, Öl auf Leinwand, 282 x 330 cm. © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York. Fotoquelle: Haus der Kunst, München
Ein Ex-Maoist als Staatskünstler der alten Bundesrepublik: Deren Zeitgeist und Personal hielt kein anderer Maler so vielschichtig opulent fest wie Immendorff. Die enorme Bandbreite seines Werks führt das Haus der Kunst in seiner großen Retrospektive anschaulich vor.

Barockmaler der alten Bundesrepublik: Wohl kein westdeutscher Künstler hat seine Ansätze, Themen und Stile so häufig gewechselt und jeweils bis zum Anschlag ausgereizt wie Jörg Immendorff (1945-2007). Und keiner ist gerade dadurch so unverwechselbar geworden wie er. Das führt die Werkschau im Haus der Kunst anschaulich vor; sie ist mit fast 200 Exponaten die größte Retrospektive seit seinem Tod vor elf Jahren.

 

Info

 

Jörg Immendorff: Für alle Lieben in der Welt

 

14.09.2018 - 27.01.2019

täglich 10 bis 20 Uhr,

donnerstags bis 22 Uhr

im Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, München

 

Katalog 49,80 €

 

Weitere Informationen

 

Trotz der nüchternen Präsentation in 14 Räumen lässt sich die Schau beim Titel wohltuend von Immendorffs Ironie anstecken. „Für alle Lieben in der Welt“ nannte er als Student an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys 1966/67 seine erste Bilderserie: grotesk aufgeblasene Babys in kreischenden Farben mit Pausbacken und Schlitzaugen, irgendwo zwischen Pop-Art und Horror-Comic. Ausgerechnet die Bezeichnung dieser Bubblegum-Monster als menschheitsumarmende Devise seines gesamten Schaffens auszugeben, ist so gewagt wie charmant – das würde dem Geehrten gewiss gefallen.

 

Mit Holzklotz vor dem Bundestag

 

Der machte selbst durch Neodada-Happenings auf sich aufmerksam, als er 1968 mit seiner damaligen Partnerin Chris Reinecke das „LIDL“-Projekt startete; dieses Kunstwort sollte nicht an die Discounter-Kette, sondern an Babyrassel-Geräusche erinnern. Immendorffs erster Auftritt – er ging mit einem schwarz-rot-goldenen Holzklotz am Bein vor dem Bundestag in Bonn auf und ab – endete mit einem Verhör beim Verfassungsschutz.

Feature zur Ausstellung. © Haus der Kunst, München


 

Arbeiterkindern eine Stimme geben

 

Bei späteren Aktionen beschoss er Galeriebesucher mit Papierkügelchen, lief nur mit Unterhose und Baby-Maske bekleidet umher oder stapfte mit Reinecke durch Honig – eine arge Provokation für den todernst politisierten Zeitgeist der End-1960er Jahre. Dass Immendorff nicht infantilen Nonsens, sondern produktive Veränderung im Sinn hatte, zeigte sich nach seinem Verweis von der Akademie 1969. Er trat seinen langen Marsch durch die Institutionen an und arbeitete 13 Jahre lang als Kunstlehrer an Hauptschulen.

 

Zugleich war er in einer maoistischen Splitterpartei aktiv. Neben Sujets im Agitprop-Look damaliger K-Gruppen – kommunistische Säulenheilige, Streikkomitees, Demos – entstanden auch etliche über seine Lehrertätigkeit mit Gruppenarbeit, Schülerzeitungen und Ähnlichem. Immendorff nahm den pädagogischen Auftrag sehr ernst: Seine Bilder, etwas ungelenk figurativ und meist von viel Text begleitet, gaben Arbeiter- und Kleinbürgerkindern Gesicht und Stimme, die sich nie zuvor öffentlich äußern konnten. Im Zeitalter von Facebook und Instagram, bei denen Millionen User ihr Frühstück publizieren, scheint das kaum noch vorstellbar.

 

„Cafe Deutschland“ durchschlägt Mauer

 

1977 sieht er in Köln das Gemälde „Caffè Greco“ von Renato Guttuso, auf dem der italienische KP-Starkünstler Geistesgrößen aus 100 Jahren im römischen Traditionslokal versammelt – ein Schlüsselerlebnis. Nun hat Immendorff die passende Form für das, was ihn beschäftigt. In den 19 Bildern seiner „Cafe Deutschland“-Serie bis 1982 bevölkert er düstere Räume mit allen möglichen Gestalten und Symbolen.

 

Da trifft tote und lebende Politprominenz auf Halbwelt, Geister der Vergangenheit treiben ihr Unwesen, Mauer und Stacheldraht stehen neben Spiegeltresen und Disco-Geflacker, Reichs- bzw. Bundesadler und Hakenkreuz dürfen nicht fehlen. Mittenmang Immendorff selbst, der kellnert oder als Kutten-Rocker die Mauer mit der Faust durchschlägt: Kunst als Medium, um den Ost-West-Konflikt zu überwinden.

 

Historienmaler der Gegenwart

 

Während die meisten seiner Kollegen elitären Konzeptkunst-Spielarten frönen, was er ihnen schon 1973 im Bild vorgehalten hatte, wird Immendorff zum Historienmaler der Gegenwart – und damit berühmt. Die ungelöste deutsche Frage als Herzensthema eines dezidiert linken Künstlers; das sprengt die Denkschemata der stark ideologisierten 1970er Jahre. Wie unbekümmert Immendorff solche Kategorien ignoriert, macht ihn zum Vorbild der jüngeren Generation: Ab etwa 1978 hauen die „Neuen Wilden“ ihr Lebensgefühl in wilden Farbschlachten auf die Leinwände.

 

In den 1980er Jahren stilisiert sich Immendorff zum schillernden Kraftkerl. Er tritt mit dicken Klunker-Ringen und in schwarzen Ledermänteln auf, kahlköpfig und unrasiert. Im Suff lässt er sich dazu überreden, eine Hamburger Kiez-Bar zu pachten; mit solchen Anekdoten füttert er die Boulevardpresse. Zugleich wuchern seine Gemälde zu Wimmelbildern im Riesenformat: Von giftigen Neonfarben scharf umrissen, tummeln sich darauf Dutzende Figuren in unheimlichen Interieurs zwischen Pandämonium und Peepshow.

 

Vanitas-Motive des Nervenkranken

 

Hier leistet sich ihr Schöpfer ganz andere Selbstdarstellungen: etwa als Äffchen oder Ballerina auf einer Bühne mit Make-up, Tütü und Spitzenschuhen. Als Junge wollte Immendorff Tänzer werden, dann zog es ihn zum Theater. Diese sachte, sensible Neigung kommt in seiner Kunst vor allem ab 1998 zum Tragen: Da wird bei ihm die unheilbare Nervenkrankheit ALS diagnostiziert, die zu fortschreitender Muskellähmung führt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Aufruhr in Augsburg: Deutsche Malerei der 1960er bis 1980er Jahre" mit Werken von Jörg Immendorff in der Staatsgalerie Moderne Kunst, Augsburg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Martin Kippenberger: sehr gut | very good" – große Retrospektive im Hamburger Bahnhof, Berlin

 

und hier eine Kritik des Films "Beuys" - Doku-Porträt des Aktionskünstlers und Immendorff-Lehrers von Andreas Veiel

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die 80er – Figurative Malerei in der BRD" über die „Neuen Wilden“ im Städel Museum, Frankfurt/ Main

 

und hier eine Besprechung der Schau "Rainer Fetting - Berlin" – Doppel-Ausstellung in der Berlinischen Galerie + Galerie Deschel, Berlin.

 

Abermals wechselt Immendorff seine Bilderwelt: Flackernde Alltagsreize treten zurück, statt dessen greift er tief in den Fundus der Kunstgeschichte. Intimes Kerzenlicht, Baumstümpfe von Caspar David Friedrich, eine an Krücken auf Kugeln humpelnde Frauengestalt von Hans Baldung Grien – allesamt Vanitas-Motive. Sein Gegenwarts- und Lebenshunger wirkt zusehends verzweifelt: 2003 wird er wegen Kokainkonsums mit Prostituierten zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

 

Von Schröder + Schäuble geschätzt

 

In den letzten Jahren kann Immendorff nicht mehr selbst malen und lässt seine Entwürfe von Assistenten ausführen: Diese späten Arbeiten überraschen mit flächigen Kompositionen in gedämpftem, beinahe bleichen Kolorit. Wobei die Kombination von abstrakten und figurativen Elementen noch surrealer erscheint als auf seinen grellen Gesellschafts-Tableaus: Der Surrealismus war für ihn eine ebenso wichtige Inspirationsquelle wie sein Akademie-Lehrer Beuys.

 

Doch im Unterschied zu dessen asketischer Esoterik, zum brachialen Berserkertum eines Georg Baselitz oder dem manierierten Malerfürsten-Gehabe von Markus Lüpertz blieb Immendorffs Kunst stets zugänglich: ein vielschichtig opulentes Kaleidoskop, in dem jeder etwas für sich finden kann. Das schätzen so unterschiedliche Politiker wie Gerhard Schröder und Wolfgang Schäuble: Der frühere Bundeskanzler ließ sich von Immendorff porträtieren, eines seiner Bilder hängte sich der Bundestagspräsident ins Büro.

 

Engagement zur Besserung

 

Ein Ex-Maoist als informeller Staatskünstler; das ist so unwahrscheinlich wie ein Ex-Hausbesetzer als Außenminister. Immendorffs fortdauernde Popularität lässt sich vielleicht durch sein Engagement fürs Humane erklären, das alle Werkphasen trotz vordergründiger Effekthascherei mehr oder weniger durchzieht: Er wollte mit seinen Bildern irgendwie zur Besserung der Verhältnisse beitragen. Für alle Lieben in der Welt.