Kornél Mundruczó

Jupiter’s Moon

Aryan (Zsombor Jéger) fällt. Foto: 2017 © Proton Cinema - Match Factory Productions – KNM
(Kinostart: 22.11.) Wenn das kein Wunder ist: ein Junge, der in der Luft schwebt! Doch für Übernatürliches ist wenig Raum in der geldgierigen Welt. Der Ungar Kornél Mundruczó inszeniert einen eigenwilligen Genre-Mix: optisch brillant, inhaltlich etwas unbefriedigend.

Wie reagieren wir, wenn das Fundament unserer Realität ins Wanken gerät? Zum Beispiel, wenn ein Mensch den Gesetzen der Gravitation spottet und schwerelos im Raum schwebt? Nun; zumindest Doktor Stern (Merab Ninidze), dem besagte Szene in einem ungarischen Flüchtlingslager unter die ungläubigen Augen kommt, erstarrt nicht vor Ehrfurcht. Vielmehr weiß der Arzt, der sich mit Geld- und Alkoholproblemen herumschlägt, die Situation für sich zu nutzen.

 

Info

 

Jupiter's Moon

 

Regie: Kornél Mundruczó,

123 Min., Ungarn/ Deutschland 2017;

mit: Zsombor Jéger, Merab Ninidze, Móni Balsai

 

Website zum Film

 

Er schnappt sich den sanftäugigen Wunderjungen – einen jungen Syrer namens Aryan (Zsombor Jéger), der beim illegalen Grenzübertritt angeschossen wurde und daraufhin diese übernatürliche Fähigkeit entwickelte – um fortan mit dessen Schwebekünsten Kasse zu machen. Schließlich plagen Dr. Stern seit einer verpfuschten Operation Schuldgefühle. Durch eine Blutgeldzahlung an die Angehörigen seines verstorbenen Patienten will er die Situation bereinigen.

 

Gehetzt im Labyrinth

 

Sein Kalkül: Kranke Menschen werden bereit sein, angesichts des Schwebewunders große Summen auf den Tisch zu legen, in der Hoffnung auf Heilung. Der Markt für Wunder hat schließlich aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Trotz auch im 21. Jahrhundert Konjunktur. Dumm nur, dass Stern sein Handy mit Aufnahmen des jungen Syrers in der Hektik des Aufbruchs im Lager zurückgelassen hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Endzeitstimmung mit Gelbstich

 

Alsbald nimmt die Polizei unter Führung des skrupellosen László (György Cserhalmi) die Verfolgung des ungleichen Duos auf. Und so hetzen Stern und Aryan atemlos durch Budapest, die unruhige Kamera klebt ihnen dabei durchgängig an den Fersen. Egal, ob sie sich im Flüchtlingslager, im Krankenhaus, einem Hotel oder am Bahnhof aufhalten: Alle Räume und Straßen haben etwas Labyrinthisches und Klaustrophisches.

 

Durch die artifizielle Farbgestaltung wirken die meisten Szenen entweder dunkel oder mit einem extremen Gelbstich getönt. Dadurch kommt Endzeitstimmung auf. Der Titel „Jupiter’s Moon“ bezieht sich auf einen Jupitermond namens Europa: der Kontinent als ein Kulturkreis, in dem seit Jahrhunderten Idealismus und Gewalt, Religion und Wissenschaft, Realität und Wunderglaube aufeinander treffen.

 

Christus im Flüchtlingslager

 

Der ungarische Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó spannt in seinem eigenwilligen Genre-Mix ein weites Bedeutungsfeld auf. Aryan lässt sich als postmoderne Christusfigur mit Flüchtlingshintergrund deuten. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger vor 2000 Jahren verkündet er jedoch keine Botschaft.

 

Überhaupt scheint es auf der Erde keinen Platz mehr für Wunder zu geben. Zwar erstarren manche, die des schwebenden Jungen ansichtig werden, vor religiöser Ehrfurcht, doch überwiegt der Zynismus. Fast jeder will Aryans habhaft werden, ihn um jeden Preis besitzen, kontrollieren und ausbeuten. Als der Junge den Arzt fragt, welcher Ort sicher sei, antwortet der, es gäbe keinen sicheren Ort vor den Verletzungen der Geschichte.

 

Vom Saulus zum Paulus

 

Angesichts solcher dahingetupften, bedeutungsschwangeren Sätze ist es umso enttäuschender, dass sich Mundruczó, der es mit seinem Werk in den diesjährigen Wettbewerb von Cannes schaffte, kaum für seine Figuren interessiert. Sterns allmähliche Wandlung vom Saulus zum Paulus ist vorhersehbar.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Shape of Water - Das Flüstern des Wassers" - fantasievolle Fantasy-Fabel über Fisch-Menschen von Guillermo del Toro, mit Goldenem Löwen 2018 prämiert

 

und hier eine Besprechung des Films "Körper und Seele" - betörendes Liebesfilm-Märchen im Schlachthaus-Milieu von Ildikó Enyedi, Berlinale-Gewinner 2017

 

und hier einen Beitrag über den Films "Das Turiner Pferd - A Torinói Ló" - brillante Apokalypse-Allegorie von Béla Tarr, prämiert mit Silbernem Bären 2011.

 

Über Aryan hingegen erfährt man kaum etwas, sein Wesen bleibt formlos. Er ist schlicht eine so attraktive wie gesichtslose Chiffre für das, was sich angeblich noch alles zwischen Himmel und Erde abspielen könnte. Inhaltlich und dramaturgisch lässt der temporeiche, zunehmend action-lastige Film zu viele lose Enden herumliegen.

 

Magyarisch-magischer Realismus

 

Dieses Skizzieren eines fantastischen Szenarios, das nicht weiter erklärt wird, hat eine bemerkenswerte Tradition im neueren ungarischen Autorenfilm. Ob als knallbunte Groteske wie „Bibliothèque Pascal“ (2010) von Szabolcs Hajdu, als monumentale Schwarzweiß-Parabeln wie in den Filmen von Bela Tarr oder auch als wunderbarer Eingriff in eine ansonsten alltägliche Handlung wie im Berlinale-Siegerfilm „Körper und Seele“ (2017) von Ildikó Enyedi: Der magyarisch-magische Realismus bleibt stets im ungemütlich Vagen.

 

Ebenso „Underdog“ (2014), Mundruczós erster Film, der in die deutschen Kinos kam: Darin übernahmen Hunderte streunender Hunde die Herrschaft auf den Straßen von Budapest –  ein düsterer Machtkampf aus der Rinnstein-Perspektive. Dagegen wartet Jupiter’s Moon zumindest mit spektakulären Schauwerten auf.

 

Freude am Unmöglichen

 

Die Schwebe-Szenen sind mit schwindelerregenden Kamerafahrten gefilmt, vielleicht mit Drohnen; sie wirken fließend und eröffnen ganz neue Raumperspektiven. Darin offenbart sich eine nahezu kindliche Freude am Spiel mit dem Unmöglichen. Fragen nach der Filmlogik bleiben dagegen zwangsläufig am Boden zurück.